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Neujahr im Herbst   

Peter Zürn zum Evangelium am 1. Adventssonntag: Lk 21,25–36

in: SKZ 47/2009

Der erste Advent ist Anfang des neuen Kirchenjahres. Wie fangen wir an?

«...was in den Schriften geschrieben steht»

In der neuen Auslegungsreihe werden im ersten Teil das Evangelium und seine biblischen Kontexte genau gelesen. Ich lese Lk 21,25–36 ohne die Auslassung durch die Leseordnung.1

«Zeichen … am Himmel und auf der Erde» (V25) – eine Formulierung, wie sie für die Apokalyptik typisch ist. Apokalyptik ist Krisenliteratur. Sie entsteht, als der Hellenismus zur beherrschenden Macht der antiken Welt wird. Als Antiochus IV. Epiphanes mit Gewalt gegen Jerusalem und den Tempel vorgeht, reagieren die Makkabäer militärisch, die Apokalyptik theologisch. Sie deutet die Krise als endzeitliche Entscheidungssituation und erwartet Gottes Eingreifen. Lk 21,27 spielt mit dem Menschensohn, der auf den Wolken kommt (V27), ein zentrales apokalpytisches Motiv aus Dan 7,9–14 ein.

Auf welche Krise Lk 21,25 ff. reagiert, zeigt der Kontext: Ab V20 wird die Belagerung und Verwüstung Jerusalems, die Flucht aus der Stadt, die grausame Ermordung oder Verschleppung vieler in die Sklaverei angekündigt. Zur Zeit des Lk ist das eingetreten. Lk 21 reagiert auf die Katastrophe des jüdischen Krieges gegen die Römer und seine Folgen. Hat sich jetzt das Imperium Romanum als Herr der Welt gegen den Gott der Bibel und sein Volk durchgesetzt?

Der Ort der apokalyptischen Rede Jesu ist der Tempel (V37). Er steht zur Zeit des Lk nicht mehr. Der Ort der Gegenwart Gottes, der versöhnenden Opfer und der Lehre, ist zerstört. Was bedeutet das für die Zukunft des Judentums? Mehr noch, der Tempel ist «von den Heiden zertreten worden» (V24). Was bedeutet das für eine jüdische Gruppe innerhalb der Vielfalt jüdischer Gruppen dieser Zeit, die sich entschieden hat, sich für die Heiden zu öffnen?

«Sonne, Mond und Sterne, … Erde, … Kräfte des Himmels…» (Vv25–26): Im Schöpfungslied von Gen 1 wird besungen, wie Gott im Chaos eine Lebens-Ordnung errichtet. Ein Gewölbe, der Himmel, trennt die alles bedeckenden Wasser. Sie sammeln sich und lassen die Erde als Lebensraum hervortreten. Lichter am Himmelsgewölbe ordnen die Zeit. Jetzt gerät die Schöpfungsordnung – gleichsam von hinten her – in die Krise. Wird die ganze Schöpfung zurückgenommen?

Das Umwelt- spiegelt sich im Gefühlschaos und der Verwirrung der Menschen – aller Menschen. Wenn es in den lukanischen Gemeinden Stimmen gab, die Zerstörung Jerusalems würde «uns» nichts angehen, sei Strafe Gottes für die anderen, so stellt Lk klar: Was in Jerusalem passiert, geht uns alle an. Lk tritt gegen eine Loslösung vom Schicksal Israels ein. V35 formuliert ausserdem, was uns heute schmerzlich bewusst wird: Es gibt kein Abseitsstehen in globalen Krisen.

Das Chaos wird zur Schöpfung, zum Lebensraum, indem Gott (unter-)scheidet. Schöpfung bietet Unterschiedlichem Raum und ermöglicht Entscheidungen. Krise ist, wenn die herrschenden Mächte alles überfluten und einebnen, d. h. sich als Chaosmächte erweisen. Anders zu leben, nach den Weisungen der Tora zu leben, ist kaum mehr möglich. Diese Krise ist Gegenwart.

In der krisengeschüttelten Schöpfung taucht das Bild von Bäumen auf (Vv 29–30). Die Erinnerung an die Bäume im Garten von Eden (Gen 2,9) wird wach. In der rabbinischen Tradition wurde der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse als Feigenbaum gedeutet. Der Baum ist nicht verloren. «Es knospt unter den Blättern. Das nennen sie Herbst», hat Hilde Domin gedichtet. Lukas dagegen nennt es: «Der Sommer ist nahe.» Die Schöpfung ist nicht verloren. Die Erkenntnis, dass das Reich Gottes nahe ist (V31), ist möglich.

Warum ist die Vermeidung von «Rausch und Trunkenheit» (V34) eine Kernkompetenz in apokalyptischen Zeiten? Weil wir uns an Katastrophen(-nachrichten) berauschen können. Heute sind sie zur medialen Leitdroge geworden. Nach Lev 10,8–9 sollen Priester sich nicht berauschen. In einem Heiligen Volk von Priesterinnen und Priestern (Ex 19,6) darf das verallgemeinert werden. Grund sind die Söhne Aarons, die mit fremden Feuer geopfert, d. h. die Fähigkeit zu unterscheiden verloren haben (Lev 10,1). Diese grundlegende Schöpfungs- und Lebenskompetenz gilt es unter allen Umständen und durch alle Generationen zu bewahren (Lev 10,9–10). Die Generation, die sie bewahrt, wird nicht vergehen (Lk 21,32).

Jerusalem hat sich im Jahr 70 «… in eine Falle» verwandelt. (V35). Wörtlich ist von einer Schlinge die Rede. Sie hat sich in Jerusalem zugezogen. Zur Zeit des Lk, 10 oder 15 Jahre nach dem Krieg, ist der Hals immer noch wie zugeschnürt. Noch immer sind soziale und theologische Krisen- und Traumabewältigung gefragt. Dabei gibt es auch theologische Fallen, Denkfallen. Die Deutung einer Katastrophe oder Krise als Strafe Gottes kann eine solche Falle sein. Die christliche Deutung der Zerstörung Jerusalems als Zeichen für die Ersetzung Israels durch die Kirche ist eine solche Denkfalle.

Mit Lukas im Gespräch

Jedes Stichwort des ersten Teils kann Impuls für eine Predigt sein. Im zweiten Teil entfalten wir ein Element des Textes ausführlicher.

Die Kompetenz der Unterscheidung kann auch durch die «Sorgen des Alltags» (V34) beeinträchtigt werden. Weitere Naturbilder Jesu kommen in den Sinn, etwa Lilien des Feldes und Vögel des Himmels (Lk 12,22–31). Alltagssorgen können den Blick für die eigene Schönheit und Würde verschleiern und verhindern, dass er wie im Vogelflug über den Horizont hinausführt. Warum ist beides in apokalyptischen Zeiten besonders wichtig? Mit der Apokalyptik sind oftmals Gerichtsvorstellungen verbunden. In Lk 21 ist – wenn überhaupt – von einem Gericht die Rede, bei dem Menschen ihre Würde wahren: «Richtet euch auf und erhebt eure Häupter … damit ihr vor den Menschensohn hintreten könnt» (V28 und 36): Aufrechter Gang, erhobenes Haupt, hintreten und sich zeigen … Wird hier wieder eine Urgeschichte eingespielt? Als Adam, die Menschheit, in Gen 2,9 gefragt wird: Wo bist du?, versteckt sie sich und gibt Verantwortung ab. Die Frage Gottes ist eine Klage Gottes. Das Verstecken soll endlich, endlich ein Ende haben. So kommt Erlösung nahe.

Der 1. Advent ist Neujahr des Kirchenjahres. Im Judentum ist Neujahr, Rosch haschana, der erste der Hohen Festtage bis zum Versöhnungstag, dem Jom Kippur. Sie heissen Tage der Ehrfurcht bzw. die Furchtbaren Tage. An ihnen stellen sich jüdische Menschen vor Gott als den Richter des Universums. Am ersten Tag werden die Sünden aber vorerst beiseite geschoben. Rosch Haschana ist voller Hoffnungszeichen, ist Tag der Schöpfung und Neuschöpfung der Welt. Neuanfang und Umkehr, hebr. Teschuwa, kann nur beginnen, wenn wir uns noch nicht völlig aufgegeben haben. Wer sich wertlos fühlt, kann sich nicht auf den Weg machen und vor Gott hintreten. Wer umkehrt, muss vorher erkennen: Ich bin ein Kind Israels. Ich habe einen Herrn im Himmel. Ich bin – trotz allem – verbunden mit Gott. Umkehr beginnt mit der Rückkehr ins Volk Gottes.

1 Ich schöpfe dabei aus dem reichen Ertrag eines gemeinsamen Vorbereitungstreffens der Autorinnen und Autoren der kommenden Auslegungsreihe. Herzlichen Dank für alle Hinweise.