Wir beraten

Brennende, begriffsstutzige Herzen   

Peter Zürn zum Lesejahr C und dem Lukasevangelium SKZ 47/2009

Ein grossartiges Erlebnis», «eine geniale Lesung», «das Evangelium lebt ganz neu in mir», «tief berührt», «überhaupt nicht langatmig». So lauteten einige der Rückmeldungen zu einer besonderen Einführungsveranstaltung ins Lesejahr C, die am 3. November 2006 in Osnabrück stattgefunden hat.1 Dabei handelte es sich um eine Vigil zum Lukasevangelium. In der vierstündigen Feier wurden weite Teile des Evangeliums von einem professionellen Sprecher vorgetragen. Gemeindegesänge, Chorstücke und liturgische Elemente gestalteten die Lesung so, dass ruhige und bewegte Passagen sich abwechselten. Der Zeitraum am Abend bis in die Nacht hinein schuf den Rahmen für eine echte Nachtwache der Gemeinde nach dem Vorbild der Osternacht. So wurde eine Grundform kirchlicher Existenz erfahrbar: Die wachende Gemeinde, die beim Lesen der Schrift auf die Rückkehr ihres Herrn wartet und dem Auferstandenen begegnet. Die Begegnung mit dem Auferstandenen beim Auslegen der Schrift ist bereits im Lukasevangelium selbst, in der Emmausgeschichte in Lk 24,13–35, erzählerisch entfaltet. Die Erzählung wiederum wird zum Vorbild für die Gemeinde: Der Weg nach Emmaus ist der Weg der Gemeinde im kommenden Lesejahr. Die Vigil in Osnabrück stand unter dem Titel «Brannte nicht unser Herz?». So wurde dieser Schlüsselsatz der Emmauserzählung auch zum Satz, der den Zugang zum ganzen Lukasevangelium erschloss.

Ein Schlüsseltext für das ganze Evangelium

Auch die Exegetin Kerstin Schiffner erkennt in der Emmauserzählung die hermeneutische Schlüsselstelle des Lukasevangeliums.2 Sie steht genau im Zentrum des Osterkapitels Lk 24. Mit Blick auf das ganze Evangelium wird deutlich, dass die Erzählung eine rahmende Funktion hat. Sie korrespondiert mit der sogenannten «Antrittspredigt» Jesu in der Synagoge von Nazaret in Lk 4. Die beiden Texte rahmen die gesamte Erzählung vom Wirken Jesu. Die Emmausgeschichte nimmt aber auch aus der Kindheitsgeschichte das Motiv der messianischen Erwartung Israels auf. Insbesondere die Reden Simeons und Hannas in Lk 2 werden auf dem Weg nach Emmaus wieder aufgegriffen: «Sie [Hanna] sprach über das Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten» (2,38) – «Wir hatten gehofft, dass er Israel erlösen werde» (24,21). «Meine Augen haben das Heil gesehen (…), ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel» (2,30–32) – «Musste nicht der Messias all das erleiden, um in seine Herrlichkeit zu gelangen?» (Lk 24,26). Ja, das Paar Simeon und Hanna spiegelt sich gewissermassen in Kleopas und seiner namen- und geschlechtslos bleibenden Begleitung, die durchaus eine Frau sein kann. Oder anders ausgedrückt: Kleopas und seine Begleiterin stellen sich in eine Reihe mit Simeon und Hanna. Sie laden die Gemeinde, die ihre Geschichte hört, ein, sich ihnen anzuschliessen. Gerade die namen- und geschlechtslose Figur, die Kleopas begleitet, bietet sich als Identifikationsfigur für Frauen und Männer an.

Lukas liest Exodus

Die Emmauserzählung bringt Jesus in besondere Nähe zu Mose. Kleopas und seine Begleiterin sprechen mit dem Fremden über Jesus. Sie stellen ihn vor als «mächtig in Wort und Tat» (24,19). Im weiteren Verlauf des lukanischen Gesamtwerkes – in der grossen Rede des Stephanus in Apg 7,22 – wird mit genau diesen Worten Moses charakterisiert. Obwohl Mose zunächst vom Volk verleugnet wird (Apg 7,35), macht ihn Gott zum Befreier, wörtlich zum Loskäufer Israels (griech. lytrotes). Mit dem gleichen Wortstamm formuliert Lukas auch in 24,21: «Wir hatten gehofft, dass er Israel erlösen werde» (wörtlich: «loskaufen», griech. lytroo). Ausdrücke von diesem speziellen Wortstamm, die in besonderer Weise mit Israel verbunden sind, durchziehen das ganze Lukasevangelium – im Unterschied zu den anderen Evangelien. Lukas setzt den Wortstamm «lytr-» als Ausdruck für befreiendes Handeln an Israel bewusst und gezielt ein. Offenbar orientiert er sich dabei an seiner griechischen Bibelübersetzung, der Septuaginta. Dort findet sich der Ausdruck erstmals in Ex 6,6: «Ich bin JHWH: Ich werde euch herausführen aus der ägyptischen Herrschaft und euch aus der Sklaverei losreissen und euch loskaufen»(Übersetzung Kerstin Schiffner). Er steht also an einer zentralen Stelle der Exoduserzählung. Und auch im weiteren Verlauf bleibt der Ausdruck in der Septuaginta immer wieder auf den Exodus, die Befreiung aus Ägypten bezogen und wird erst von dort aus in andere Kontexte (kollektive und individuelle Befreiungserfahrungen und -hoffnungen) übertragen.3
«Lukas liest Exodus« – mit diesem Titel ihrer Dissertationsschrift hat Kerstin Schiffner deutlich gemacht, wie sie das Lukasevangelium (und die Apostelgeschichte) versteht: als Relecture der Exodusüberlieferung. Sie zeigt diese Grundstruktur des lukanischen Werkes an verschiedenen Elementen auf: an verwendeten Schlüsselwörtern, an strukturellen Parallelen einzelner Passagen und vor allem an Personen der Geschichten. So wird z. B. Maria, die Mutter Jesu, in besonderer Weise mit Mirjam, der Prophetin des Exodus, verbunden.4

Begriffsstutzigkeit und Tun des Wortes

Kleopas und seine Begleitung (Kerstin Schiffner nennt sie »X» und gibt ihr so einen Namen, der zugleich ein Platzhalter ist; sie hält einen Platz frei für andere) nehmen die Hoffnung Simeons und Hannas auf die Befreiung Israels auf. Das Wirken Jesu in der Gegenwart ist die Aktualisierung und Vergegenwärtigung der Exoduserfahrung. Aber stimmt das? Die Realität scheint dagegen zu sprechen. Sind am Kreuz nicht alle Hoffnungen gestorben? Auch die Erzählung der Frauen mit der Nachricht, dass Jesus lebe, schafft nur mehr Verwirrung. Kleopas und X werden daraufhin mit harten Worten kritisiert. Die Version der Einheitsübersetzung, «begreift ihr denn nicht?», ist recht harmlos formuliert. Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt deutlicher: «Oh, ihr seid ja unverständig und schwer von Begriff!» Im Griechischen ist von kardia, dem «Herzen», die Rede. In der Vorstellungswelt der hebräischen Bibel ist das Herz ja das Organ des Denkens und Planens. Dieses Organ versagt völlig. Schiffner spricht von «Begriffsstutzigkeit». Das Problem von Kleopas und X liegt in der Unfähigkeit, das Geschehene von der Schrift her zu deuten und zu verstehen, und genau das passiert dann: Der Fremde, der sich den beiden anschliesst, verweist auf die Propheten; er deutet ihnen ihre Erfahrungen im Licht der gesamten Schrift, «beginnend bei Mose und allen prophetischen Schriften». Es geht also nicht um einzelne, aus dem Zusammenhang gelöste Textstellen oder Weissagungen, es geht um eine Hermeneutik der ganzen Schrift.

Begriffsstutzigkeit angesichts der Bibel bzw. der Deutung von Erfahrungen im Licht der Bibel ist so gesehen keineswegs nur ein Phänomen unserer Zeit, sondern begleitet das Christentum seit seinen Anfängen. Die arg kritisierten Kleopas und X sind auch in dieser Hinsicht Identifikationsfiguren. Sie laden uns ein, uns gegenüber der Schrift immer als Lernende zu verstehen. Schriftlernende zu sein und Schriftgelehrte zu werden (was kein Nacheinander, sondern ein gleichzeitiges Miteinander meint), ist für Christinnen und Christen eine wesentliche Haltung und Eigenschaft. Denn, wie Frank Crüsemann betont: «Es ist schon erstaunlich: Der Auferstandene macht sich selbst kenntlich, indem er die Schrift liest und deutet, er kann offensichtlich nur so und er will nur so erkannt werden. Kein Glanz, kein Wunder, keine überwältigende Erfahrung lösen Glauben und Erkennen aus, sondern allein der Horizont, der durch die Auslegung der Schrift eröffnet wird, macht Erkenntnis möglich.»5 Aber erkennen Kleopas und X den Auferstandenen nicht erst beim Brotbrechen? Die Schrift lesen und das Brot brechen sind keine Alternativen, sie sind aufs Engste verbunden, wie Lk 24 erzählt. Das gemeinsame Brotbrechen und Essen, das die gemeinsame Geschichte erinnert und vergegenwärtigt, ist das «Tun der Worte», ist gelebte Tora. Und gerade das Tun der Worte – über das Hören der Worte hinaus – sorgt dafür, dass die Augen aufgehen und der Auferstandene erkannt wird.

Glaubenserfahrung und Glaubensgespräch

Dadurch, dass der Auferstandene im selben Augenblick nicht mehr gesehen wird, wird deutlich, worauf die Erzählung einen besonderen Schwerpunkt legt: Das Erkennen des Auferstandenen ist flüchtig, es entzieht sich der Fixierung in feste Bilder. Die unverfügbare Erfahrung bleibt aber nicht einfach stehen, sondern mündet ins Gespräch. In diesem Glaubensgespräch wird die Glaubenserfahrung ins Wort gebracht, mitgeteilt und so letztlich erst realisiert.6 Kleopas und X sind so ein Modell für Kirche: Im Lesen, Hören, Auslegen und Tun der Schrift ist der Auferstandene gegenwärtig, wird erfahren und erkannt. Die Erfahrung wird im Glaubensgespräch geteilt. Die Emmauserzählung zeigt: Ein solches Glaubensgespräch kann durchaus eine vorsichtige Frage sein. Vielleicht ist eine Frage sogar die geeignetste Form angesichts der Unverfügbarkeit der Erfahrung. «Brannte uns nicht das Herz in der Brust?» ist allerdings eine besondere Frage. Sie führt nicht von der Erfahrung weg, sondern zur Erfahrung hin, und sie schafft zugleich Verbindung untereinander. Das Gespräch über Glaubenserfahrungen ist nicht abstrakt, sondern erfahrungsbezogen; es ist persönlich, aber dabei verbindlich.

Sitzenbleiben und lernen

Die Emmauserzählung ist nicht nur die hermeneutische Schlüsselstelle des Lukasevangeliums, sondern des gesamten lukanischen Doppelwerkes. Im Zentrum steht die Überzeugung: Die Schrift ist die Basis allen Erkennens. Insofern ist es ganz folgerichtig, dass die Anhängerinnen und Anhänger Jesu, die in der Apostelgeschichte die Botschaft von der befreienden Kraft Gottes zu allen Völkern tragen sollen, damit beginnen, dass sie 40 Tage gemeinsam lernen (Apg 1,3). Es gilt zu lernen, neu zu lernen, um lehren zu können. Die letzte Weisung des Auferstandenen im Lukasevangelium hiess denn auch: «Bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet» (Lk 24,49). Wörtlich ist hier die Rede davon «in der Stadt sitzen zu bleiben». Gerhard Jankowski hat festgestellt, dass mit dieser merkwürdigen Formulierung wohl Dtn 1,6 eingespielt wird.7 Dort heisst es wörtlich. «Lange genug ist eures Sitzens an diesem Berg.» Dieser Satz ist der Beginn der Rede Moses, die er im vierzigsten Jahr der Wüstenwanderung vor dem Volk Israel hält, um ihm die Tora zu erklären. Danach ist das Volk endlich bereit, um in das verheissene Land der Freiheit einzuziehen. Lukas lebt in anderen Zeiten. Das verheissene Land ist verwüstet, die Stadt Jerusalem ist zerstört. Da erinnert Lukas an das Volk Israel in der Wüste. Vierzig Jahre lang, eine Generation lang, hatte das Volk in der Abgeschiedenheit der Wüste Zeit, eine neue Lebensweise, ohne Herrschaft und Versklavung, zu lernen.
Es hatte zu lernen, was Freiheit heisst und wie sie gelebt werden kann. Das bleibt auch für Lukas die grosse Aufgabe seiner Gegenwart. Wieder muss gelernt werden. Auf dem Fundament der einmal gegebenen Weisung muss neu gelernt werden. Deswegen bleiben die Jüngerinnen und Jünger Jesu in der Stadt sitzen und lernen, bevor der neue Aufbruch beginnen kann. Da die Zeit drängt, dauert das Sitzen und Lernen nicht mehr 40 Jahre, sondern 40 Tage. In diesen 40 Tagen lernen die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu, dass die messianische Hoffnung nicht erledigt, sondern trotz Zerstörung und Verwirrung lebendig ist.

Mit Kleopas und X durchs Lesejahr C

Wir stehen vor dem Beginn des Lesejahres C mit dem Lukasevangelium im Zentrum. Die Emmauserzählung ist seine Schlüsselstelle. Der Weg nach Emmaus ist der Weg der Gemeinden im kommenden Lesejahr. Kleopas und X laden uns ein, diesen Weg mit ihnen gemeinsam zu gehen. Welche Anregungen können wir mitnehmen?

1. Es ist wichtig, das Evangelium nicht nur in der fragmentierten Form der (sonn-)täglichen Lesungsperikopen, sondern in seiner Gesamtheit wahrzunehmen.
Es stellt – wie jedes andere biblische Buch – einen literarischen Zusammenhang her. Viele Sinnbezüge entfalten sich von vorne nach hinten und durch Rückbezüge und Vorausverweise. Jede Passage gewinnt durch ihren Kontext zusätzliche Bedeutung. Eine Wahrnehmung des Lukasevangeliums im Gesamtzusammenhang verändert die Wahrnehmung dieses Textes. Für eine Lese-Vigil vor Beginn des Lesejahres, wie in Osnabrück, ist es jetzt schon etwas spät. Eine solche liturgische Lesung des gesamten Lukasevangeliums (bzw. dem Grossteil des Evangeliums im Gesamtzusammenhang) kann aber auch ohne weiteres mitten im Lesejahr gestaltet werden.
Warum nicht die 40 Tage der Fastenzeit nutzen, um nach Apg 1,3 gemeinsam Bibel zu lernen. Auch andere Formen sind denkbar, die das gleiche Ziel verfolgen.8 Zuletzt haben die christlichen Gemeinden der Stadt Aarau gemeinsam das Markusevangelium im Zusammenhang gelesen und ausgelegt (www.aarauliestdiebibel.ch). Die Bibelpastorale Arbeitsstelle nimmt Informationen über solche Projekte gerne entgegen und macht sie über ihre Homepage (www.bibelwerk.ch) anderen Interessierten zugänglich.

2. Genauso wichtig wie das Evangelium im Gesamtzusammenhang zu lesen, ist es, die Geschichte von Jesus Christus «beginnend bei Mose und den Propheten» zu lesen, also im Kontext der ganzen Bibel.
Die biblischen Schriften stehen untereinander in einem intensiven Gespräch. Das zeigen direkte und indirekte Zitate, aber auch die Aufnahme von Motiven und Themen. Der Horizont der (ganzen) Schrift schafft den Raum dafür, den Auferstandenen zu erkennen. So und nur so, auf der Grundlage von Gesetz, Propheten und den anderen biblischen Schriften macht die Geschichte von Jesus Christus Sinn. Die kanonische bzw. intertextuelle Bibelauslegung hat in den letzten Jahren das Bewusstsein für die Theologie der Einen Bibel geschärft. Die Umsetzung der kanonischen Bibelauslegung in die bibelpastorale Praxis ist allerdings noch wenig entwickelt. Im Herbst 2010 veröffentlicht das Katholische Bibelwerk den 14. Band der Reihe WerkstattBibel. Er wird in die kanonische Bibelauslegung einführen und entsprechende Bibelarbeiten zum Matthäusevangelium vorstellen. In 6 Bibelarbeiten werden über 20 biblische Texte miteinander ins Gespräch gebracht. Wir hoffen, dass viele Menschen in der bibelpastoralen Praxis von diesem Praxisbuch profitieren werden.
Das Lukasevangelium liest die Exodusüberlieferung neu. Die Geschichte Jesu ist unlösbar mit der Geschichte Israels verbunden. Die biblischen Texte «mit Israel zu lesen» war die zentrale Zielsetzung der Auslegungen zum Lesejahr in der SKZ in den letzten drei Jahren. Positive Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern haben uns bestätigt, dass dieses Unternehmen wichtig war und die (Predigt-)Praxis in den Gemeinden befruchtet hat. Meine Erfahrungen als Autor von Beiträgen für diese Reihe lassen sich gut mit «Begriffsstutzigkeit und brennendem Herzen» beschreiben.

Begriffsstutzig und als lernender Anfänger habe ich mich angesichts der mir weitgehend unbekannten jüdischen Bibelauslegung gefühlt. Und mit brennendem Herzen habe ich gelernt, was sich mir da an Neuem und Bereicherndem auftat. Die Tradition des Bibellesens «mit Israel» wird in der SKZ fortgesetzt. In den nächsten drei Lesejahren werden die Perikopen der Sonntagsevangelien als jüdische Schriften gelesen und mit den zwei Überschriften «Was in den Schriften geschrieben steht…» und «Mit Lukas im Gespräch», ausgelegt.

3. Die Reihe soll weiter daran mitwirken, dass wir Christinnen und Christen – mit einem Ausdruck von Emanuel Levinas – im Volk Israel und dem Judentum «eine vergessene Verwandtschaft wiederfinden».

4. Kleopas und X als Platzhalterin laden uns ein, sie zu begleiten und uns mit ihnen zu identifizieren.
Damit eröffnen sie uns Raum, um in der Schrift und ihrer Auslegung dem Wort Gottes zu begegnen. In einer chassidischen Geschichte heisst es. «Wisst ihr, das Wort Gottes ist keine Lehre. Wenn wir es lesen oder hören, sind wir nicht gescheiter als vorher. Es ist auch nicht einfach eine Stimme, obwohl die Stimme seiner Wahrheit schon näher kommt. Nein! Das Wort Gottes ist eher ein Raum. Und wir sind eingeladen, hineinzugehen, zu tasten, wahrzunehmen mit allen Fasern unseres Lebens, was das Wort uns hier und heute sagen will.»9 Darauf zielt jede erfahrungsbezogene Bibelarbeit ab. Sie gibt es in zahlreichen Formen und Spielarten, von der lectio divina und dem Bibel-Teilen bis zu Bibliodrama und Bibliolog. Im Jubiläumsjahr des Schweizer Katholischen Bibelwerks wird ein Kongress vom 10. bis 12. September 2010 die Vielfalt von erfahrungsbezogener Bibelarbeit in der Schweiz sichtbar machen und einen Beitrag zu ihrer Vernetzung leisten.

5. Kleopas und seine Begleiterin halten den Menschen, der ihnen auf ihrem Weg begegnet, für einen in Jerusalem ansässigen Fremden (Lk 24,18).
Es sind die Fragen dieses Fremden, die das Gespräch in Gang bringen, das sie schliesslich zum Verständnis der Schrift und zum Erkennen des Auferstandenen führen. Die Fragen leiten sie zum entscheidenden Kern. Der Fremde fragt sie nach den Erfahrungen, mit denen sie unterwegs sind (Lk 24,17), fragt genau nach (24,19), fragt sie an – direkt und persönlich (24,25). Er stellt herausfordernde Fragen, die zu einem Weiterdenken führen, das eingefahrene Verständnisgrenzen überschreitet (24,26). Die Fragen des Fremden haben wegweisende Funktion in diesem Text. Sie lassen sich durchaus auch als Wegweisung für Fragen der Leitung in einer Bibelarbeit verstehen.
Auf der anderen Seite zeichnen sich Kleopas und seine Begleiterin dadurch aus, dass sie sich von einem Fremden befragen und anfragen lassen. Darin zeigt sich eine fruchtbare Haltung in der Bibelarbeit. Die biblischen Schriften selbst sind für uns Fremde. Sie stammen nicht aus unserer Zeit und aus unserer Kultur. Sie sind – wenigstens was die alttestamentlichen Schriften angeht, die ja den Grossteil der Bibel ausmachen – nicht einmal direkt an uns gerichtet. Wir sind ihre Zweit-, nicht ihre Erstadressaten/-adressatinnen. In der Fremdheit der Texte liegt die Chance, dass wir uns anfragen lassen, gerade auch in unseren vorgeprägten Meinungen über sie. In der Begegnung mit den fremden Anderen – auch das eine zentrale Einsicht von Emanuel Levinas – kommen wir erst zu uns selber. Deswegen liegt letztlich eine Chance darin, dass das Wissen über Bibeltexte heute relativ gering geworden ist. So können wir sie neu und auf überraschende Weise entdecken. Das Schweizerische Katholische Bibelwerk führt 2010 eine Veranstaltungsreihe zusammen mit der Pfarrei St. Antonius in Wallisellen durch. Sie trägt den Titel «Die 20 wichtigsten Bibeltexte». Menschen, die nur noch rudimentäre Kenntnis von Bibeltexten haben, lernen 20 biblische Texte kennen, die bis heute unsere Kultur prägen. Sie lernen die Texte genau zu lesen und wahrzunehmen. Wir sind sicher, dass dieses Projekt Modellcharakter auch für andere Kontexte hat.

Das Schweizerische Katholische Bibelwerk und die Bibelpastorale Arbeitsstelle wünschen Ihnen und den Menschen in Ihrer Gemeinde im kommenden Lesejahr brennende Herzen, die sich von der unausweichlichen Erfahrung von Begriffsstutzigkeit nicht entmutigen, sondern einladen lassen, zusammenzusitzen, gemeinsam zu lernen und zu glauben, was die Schrift uns verheisst – beginnend bei Mose und den prophetischen Schriften bis zum Lukasevangelium und darüber hinaus. Gerne würden wir Sie dabei unterstützen, z. B. mit unseren Materialien.

1 Regina Wildgruber / Uta Zwingenberger: «Brannte nicht unser Herz in uns?» Eine Liturgie der Heiligen Schrift – Ein Praxisbericht in: Bibel und Liturgie (…) in kulturellen Räumen. Hrsg. vom Österreichischen Katholischen Bibelwerk Klosterneuburg, Jubiläumsheft 80 Jahre Bibel und Liturgie, Heft 4/2007, 280–284.
2 Kerstin Schiffner: Lukas liest Exodus. Eine Untersuchung zur Aufnahme ersttestamentlicher Befreiungsgeschichte im lukanischen Werk als Schrift-Lektüre. Stuttgart 2008, 65–71.
3 Beispiele und Stellenangaben bei: Ebd., 67.
4 Das kann hier nicht im Detail ausgeführt werden. Das Buch «Lukas liest Exodus» wird im Januar 2010 als Buch des Monats der Bibelpastoralen Arbeitsstelle unter www.bibelwerk.ch besprochen werden. Weiter empfehlen wir zum Lukasevangelium: Hermann-Josef Venetz: Der Evangelist des Alltags. Streifzüge durch das Lukasevangelium. Freiburg / Schweiz 2000.
5 Frank Crüsemann zitiert nach Schiffner(wie Anm. 2), 68.
6 Glaubenserfahrung und Glaubensgespräch sind wesentliche Elemente des Bibliodramas als Seelsorge: www.bibliodramaundseelsorge.ch
7 Gerhard Jankowski: Und sie werden hören. Die Apostelgeschichte des Lukas. Erster Teil (1,1–9,31) – Eine Auslegung in: Texte und Kontexte 91/92 3–4 / 2001, 24.
8 Eine Einführung in alle vier Evangelien in ihrem Gesamtzusammenhang bietet Bibel heute 3/2007. Evangelien als Erzählwerke.
9 Zitiert nach: www.bibliodramaundseelsorge.ch

Materialien des Bibelwerks:
–»«‚ Lukas entdecken. Lese- und Arbeitsbuch zum Lukasevangelium, Stuttgart 1997 8 Franken.
–»«‚ WerkstattBibel Band 1: Jesus im Alltag begegnen. Lebenssinn und Lebensstil nach Lukas. Bibelarbeit mit allen Sinnen (CD-Rom) 21.90 Franken.
–»«‚ Bibel heute 154 (2/2003): Lukas: Einen anderen Lebensstil entdecken, 10 Franken.
–»«‚Ganz neu erschienen: «Die lebendigste Jesuserzählung». Das Lukasevangelium, kommentiert von Thomas P. Osborne und wörtlich übersetzt von Rudolf Pesch, in Zusammenarbeit mit Ulrich Wilckens und Reinhard Kratz. Stuttgart 2009, 288 Seiten, 39 Franken.
Das Buch bietet auf jeder Doppelseite eine Textpassage aus dem Lukasevangelium in der konkordanten Übersetzung von Pesch, Wilckens und Kratz und dazu den Kommentar des Autors. Die Kommentierung zeichnet sich dadurch aus, dass die Evangelientexte im Gespräch mit alttestamentlichen Texten als Ausdruck jüdischer Schriftauslegung gelesen werden. Osborne entwirft einen neuen Gesamtaufbau des Lukasevangeliums. Er erkennt im Zentrum (Lk 8,1–19,10) einen «Lernweg der Jüngerinnen und Jünger mit ihrem Meister», auf dem sie «Dienerinnen und Diener des Wortes» werden sollen. Die Apostelgeschichte beschreibt die Umsetzung des Gelernten. Auf diesem Lernweg sind auch wir unterwegs.
Auf der Einbandinnenseite ist die Ikone «Weg nach Emmaus» von Schwester Marie Paul OSB, Kloster der Benediktinnerinnen am Ölberg in Jerusalem abgedruckt und mit einer Bildmeditation von Anneliese Hecht versehen.