Wir beraten

Der neue Mensch   

Rita Bahn zur Lesung am Christkönigsfest SKZ 46/2009

Alttestamentliche Lesung: Dan 7,2a.13b–14
Evangelium: Joh 18, 33b–37

Visionen braucht man in schwierigen Zeiten. Das war im 2. Jahrhundert vor Christus, als dieser Teil des apokalyptischen Buches Daniel auf aramäisch verfasst wurde, nicht anders, als es in unserer Zeit mit ihren zahlreichen gewalttätigen Auseinandersetzungen, grossen Flüchtlingsbewegungen, Verteilungskonflikten, Klimakatastrophe und Finanzkrise ist. Dabei mögen sich Bilderwelt und Begrifflichkeiten des Wunschbildes über die Jahrhunderte verändert haben; sein Inhalt aber behauptet auch nach so langer Zeit noch seine Gültigkeit.

Mit Israel lesen

Die kleine Versauswahl des Lesungstextes kommt harmlos und optimistisch daher. Dabei hat Daniel, eine legendenhafte Gestalt, die von den Verfassern des Buches in die babylonische Exilszeit zurückdatiert wurde, eine durchaus verstörende (vgl. 7,15.28) Vision: Ein heftiger Sturm wühlt das Meer, hier Brutstätte dunkler Chaosmächte, auf. Ihm entsteigen vier grosse bedrohliche Tiere, von denen dem vierten und schrecklichsten anscheinend eine besondere Bedeutung zukommt. Dann ändert sich das Szenario, und der Sehende gerät in eine völlig andere Sphäre. Jetzt ist alles hell, ja strahlend. Der Hochbetagte tritt auf und hält Gericht auf einem Thron aus Feuer. Den Tieren wird ihre Macht genommen, das fürchterlichste sogleich dem Feuertod übergeben.

Wasser und Feuer, Chaos und Ordnung, die Mächtigen dieser Erde in Tiergestalt und Gott anthropomorph skizziert – schwarz-weiss malend, plakativ bringen die Verfasser ihre Welterfahrung wie ihre Hoffnung auf den Punkt und legen sie Daniel als Zukunftsvision in den Mund.

Die feindlichen Weltmächte wechseln. Nach Babyloniern, Medern und Persern sind es seit dem 3. Jahrhundert die Griechen, die die Macht im Land übernommen haben. Namentlich Antiochus IV., als ein besonderes Horn am vierten Tier dargestellt, überbietet alle vorhergehenden Herrscher an Rücksichtslosigkeit und Gewalt (der Tempel wird 168 v. Chr. dem Zeus gewidmet; freie Religionsausübung ist den Juden bei Todesstrafe verboten) und fordert so den Guerillakrieg unter Führung von Judas Makkabäus heraus. Auch diejenigen, die nicht zur Waffe greifen wollen, ersehnen verzweifelt einen Wendepunkt, den sie gleichwohl nicht mehr selbst herbeiführen zu können glauben. Ihnen machen die Verfasser des Danielbuches Mut, auch wenn sie dafür die vertraute Vorstellung aufgeben müssen, dass Gott seinem Volk innerhalb der Geschichte Befreiung bringen wird: Bald wird die Geschichte ein Ende haben, und ein völlig neues, unvergleichliches Zeitalter wird von Gott her zu den Menschen kommen und von ihm selbst gestaltet werden.

Hierhin gehören die Lesungsverse: Im Gegensatz zu den Tieren aus der Tiefe des Meeres kommt hier der Sohn eines Menschen, also selbst ein schlichter Mensch, aus der Höhe des Himmels mit den Wolken daher. Ihm wird eine Aufmerksamkeit zuteil, die kein einfacher Mensch je erwarten würde. All das wird ihm geschenkt, was den «tierischen» Herrschern genommen wurde, und zwar in vollkommener, unvergänglicher Weise.

Mit «Königtum» können heutige Menschen wenig anfangen, «Herrschaft» – und dann gar noch über alle Völker – ist ihnen verdächtig geworden. In der damaligen Zeit war die Welt ohne diese Begriffe nicht denkbar, und die Vorstellung, dass Gott einen Messias senden werde, um dem Elend ein Ende zu bereiten, eine echte Hoffnung. Welche Erleichterung, einem menschlichen König dienen zu dürfen und nicht einem dienen zu müssen, der sich unmenschlich, ja bestialisch verhält!
Auch wenn das Danielbuch von der jüdischen Tradition eindeutig als apokalyptische, nicht als prophetische Schrift bewertet wurde und als solche die einzig kanonisierte blieb, hat diese Erbauungs- und Trostschrift doch grossen Einfluss weit über ihre Entstehungszeit hinaus gehabt.

Mit der Kirche lesen

Immer noch finden sich unzählige Menschen in vergleichbaren Situationen wie die unter dem Joch der griechischen Herrschaft Leidenden. Und auch die, denen es gut geht, die die Zeitläufte aber kritisch betrachten, fragen sich in vielerlei Hinsicht: «Wie lange noch?» Mit der Naherwartung eines Messias, der alles schon richten wird, können die meisten Christen/Christinnen unserer Pfarrgemeinden vermutlich wenig anfangen. Sie könnten sich aber den Begriff des «Menschensohnes» zueigen machen und danach streben als menschliche Menschen, als Menschensöhne und als Menschentöchter, zu leben. Dazu sind sie berechtigt, berufen und ermächtigt als Wesen, die nach dem Bild Gottes geschaffen wurden. Die grosse Würde, von der bei Daniel die Rede ist, wohnt nicht nur dem, der mit den Wolken kommt, sondern auch ihnen inne. Eine solch kollektive Deutung legt übrigens auch Dan 7,27 nah.

Die sich ihrer Würde und Verantwortung als Bild Gottes wirklich bewusst sind, werden nicht die Hände in den Schoss legen («Es ist ja doch schon alles vermurkst! Was kann ich da noch tun?»), sondern handeln, differenziert, kraftvoll, frei. Sie können zu den neuen Menschen werden (und vielleicht gibt es ja bereits mehr von ihnen als man denkt…), die die Welt so sehr braucht! Sie werden über ihren eigenen Gartenzaun hinaussehen, Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, sich nicht ausschliesslich in ihren Köpfen und ihrer Vernunft, sondern mehr noch in ihren offenen Herzen zu Hause fühlen und sich im Mitgefühl üben. So werden sie zu Mit-Schöpfer/innen, die sich nicht irgendeiner Wahrheit verpflichtet fühlen, sondern der Wahrheit, die allem, was ist, zugrunde liegt und von der Jesus im heutigen Evangelientext Zeugnis ablegt.

Dann könnten sich auch – endlich – jene anderen Worte aus dem Evangelium erfüllen: «Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch gross sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein» (Mk 10,43 f.).
Auch das ist eine Vision!