Wir beraten

Wie gelangen wir zum jüngsten Gericht?   

Winfried Bader zur Lesung am 33. Sonntag im Jahreskreis SKZ 45/2009

Alttestamentliche Lesung: Daniel 12,1–3
Evangelium: Markus 13,24–32

Die Szene, die der kurze Text schildert, wurde wieder und wieder in der religiösen Kunst dargestellt. Michael beteiligt sich am grossen Gericht über die Toten. So führt der Text jetzt am Ende des Kirchenjahres zur Frage, was geschieht in «jener Zeit»?

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Für die Zukunft – das ist typisch für die Schilderungen der apokalyptischen Literatur, der auch die Perikope aus dem Evangelium angehört –, wird ein «Fahrplan» aufgestellt: Zunächst kommt eine Zeit der Bedrängnis mit unvorstellbar grosser Not, und danach kommt «jene Zeit», in der beide Lesungstexte vom Erscheinen einer Figur berichten: Michael (der hebräische Name bedeutet: «Wer ist wie Gott?») bzw. der Menschensohn (übrigens eine Anspielung auf die Vision in Dan 7,13).

Beim Erscheinen von Michael werden «die im Land des Staubes schlafen, erwachen» (Dan 12,2), Dies ist das wichtigste Zeugnis für den jüdischen Auferstehungsglauben im gemeinsamen Kanon von Juden und Christen, der sonst nur in vagen Andeutungen in den Psalmen davon spricht.1

Das Buch Daniel entstand in der Zeit der Makkabäeraufstände; aufgrund von historischen Anspielungen können wir sogar ziemlich genau sagen, wann: Es muss gegen 165/164 v. Chr. fertiggestellt worden sein, kurz vor dem Tod des seleukidischen Herrschers Antiochus IV. Dieser beherrschte damals auch Palästina und betrieb eine ungewöhnlich intolerante Religionspolitik. Er verbot die Ausübung des jüdischen Kultus und weihte den Tempel von Jerusalem dem olympischen Zeus. Dagegen richteten sich die Makkabäeraufstände. Diese wurden, wenigstens anfangs, von frommen Kreisen unterstützt, die sich «Chasidim» nannten. Zu ihnen gehörte offensichtlich auch der Verfasser des Daniel-Buches. In gewaltigen Visionen schaut der Seher schon das Ende der feindlichen Mächte und das Gericht, das Gott über sie halten würde (z. B. Dan 7). Im 11. und 12. Kapitel seines Werkes gibt der Seher einen Überblick über die Geschichte. Darin beschreibt er auch den Tod des Gewaltherrschers. Da diese Schilderung nicht den wirklichen Todesumständen entspricht, müssen wir annehmen, dass Antiochus IV. damals noch lebte. Sein Tod aber sollte nach der Überzeugung des Sehers die Endzeit einleiten. Das ist diese Not, nach der Michael, der grosse Engelfürst, auftreten wird, um für Gottes Volk zu kämpfen, oder genauer: für die Treugebliebenen, die von diesem Volk noch übrig sind. Die Namen dieser Treugebliebenen sind in einem Buch verzeichnet; es ist kein anderes als das «Buch des Lebens». Wer in ihm verzeichnet ist, wird am Ende gerettet.

Aber was ist mit den Getreuen Gottes, den Frommen, die in der endzeitlichen Drangsal ihr Leben lassen mussten oder lange vorher schon gestorben waren? Sollten sie keinen Anteil am Sieg der guten Sache und an der kommenden Freudenzeit haben? Wenn der Mensch, der Staub ist, zum Staub zurückgekehrt ist (Gen 3,19!), gibt es dann keine Hoffnung mehr für ihn? Ist die «Fahrt ins Staublose» (Nelly Sachs) ohne Ziel? Auf diese bange Frage antwortet der Seher mit der berühmten Prophezeiung, dass «viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, erwachen werden». Die Auferstehung wird hier also als ein Erwachen aus dem Todesschlaf verstanden, bei dem die Toten aus dem Staub der Erde aufstehen. Freilich rechnet der Seher nicht mit einer allgemeinen Auferstehung der Toten; er spricht ausdrücklich von «vielen», nicht von allen. Mit den «vielen» meint er wohl nur die Juden; Heiden werden seiner Überzeugung nach nicht auferstehen. Aber auch von den auferstandenen Juden soll wiederum nur ein Teil «zum ewigen Leben» auferstehen; für die anderen wird die Auferstehung zu «Schmach» und «ewigem Abscheu» führen. Das Stichwort «Abscheu» kommt ausser an dieser Stelle im Alten Testament nur noch im letzten Satz des Jesaja-Buchs vor, wo es vom endgültigen Schicksal der Abgefallenen des Gottesvolkes heisst: «Ihr Wurm wird nicht sterben, und ihr Feuer nicht verlöschen; sie werden ein Abscheu sein für alles Fleisch» (Jes 66,24). Auf diese Stelle will der Seher des Buches Daniel offenbar anspielen.

Die Auferstehung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt nach der grossen Not stattfindet, ist hier ganz leiblich gedacht (so auch Sanhedrin 10,1 mit Bezug auf diese Stelle). Aber die Auferstehung führt nur für einen Teil der Auferstandenen zum ewigen Leben; für die anderen dagegen führt sie zu einem irgendwie abscheulichen Zustand, der nicht näher beschrieben wird, sowenig wie das ewige Leben der anderen. Schon deshalb also muss man «Auferstehung» und «ewiges Leben» sorgfältig unterscheiden.

Das erste biblische Zeugnis für die Auferstehung macht klar, worin letztlich der Zweck der Auferstehung besteht: Sie soll es vor allem den verstorbenen Getreuen Gottes möglich machen, dass sie am Glück der künftigen Heilszeit teilnehmen können. Das Bild, das zur Belohnung ihres Tuns gebraucht wird, ist, das sie zu «Sternen am Himmel» erhoben werden, also aufgenommen werden in die Gegenwart Gottes.

Daniel lässt natürlich immer noch einige Fragen offen: Wie soll man sich – nebst dem Bild der leuchtenden Sterne – das «ewige Leben» konkret vorstellen? Wie soll das «Erwachen aus dem Staub der Erde» eigentlich vor sich gehen? Das alles kümmert den Seher nicht; er hätte auf diese Fragen wohl geantwortet: Gott hat mehr Möglichkeiten, als wir uns ausdenken können; er wird es schon irgendwie machen. Und damit hätte er sicher recht.

Das Achtzehnbittengebet der Juden fasst ihren Glaubenskonsens zur Frage der Auferstehung, wie er in der frühchristlichen Zeit vorhanden war, in seiner 2. Benediktion zusammen: «Du bist mächtig in Ewigkeit, Herr, belebst die Toten, du bist stark zum Helfen. Du ernährst die Lebenden mit Gnade, belebst die Toten in grossem Erbarmen, stützest die Fallenden, heilst die Kranken, befreist die Gefesselten und hältst die Treue denen, die im Staube schlafen. Wer ist wie du, Herr der Allmacht, und wer gleichet dir, König, der du tötest und belebst und Heil aufspriessen lässt. Und treu bist du, die Toten wieder zu beleben. Gelobt seist du, Ewiger, der du die Toten wieder belebst!»

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Jesus bezieht in der damals offenen innerjüdischen Diskussion der Frage nach der Auferstehung – die Sadduzäer glauben daran nicht mit dem Argument, dass in der Tora davon nicht die Rede ist – eindeutig Stellung: «Wenn die Menschen von den Toten auferstehen, werden sie sein wie die Engel im Himmel. Dass aber die Toten auferstehen, habt ihr das nicht im Buch des Mose gelesen, in der Geschichte vom Dornbusch, in der Gott zu Mose spricht: Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? (Ex 3,6). Er ist doch nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden» (Mk 12,24–27).
Wenn Gott zu einer Zeit, als Abraham, Isaak und Jakob längst tot waren, dies zu Mose sagt, dann müssen diese irgendwie lebendig sein. Wir gelangen also zum jüngsten Gericht nicht als Tote, sondern als Lebende. Das Leben geht nach dem Tod weiter.

1 Vgl. zu den folgenden Gedanken auch Marius Reiser: Der Auferstehungsglauben im Alten Testament und im Frühjudentum (www.catholic-church.org/ao/ps/reiser2.html)