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Solidarität – statt religiöse Gewalttätigkeit   

André Flury-Schölch zur Lesung am 32. Sonntag im Jahreskreis SKZ 44/2009

Alttestamentliche Lesung: 1 Kön 17,10–16
Evangelium: Mk 12,38–44

Am Sonntag der Völker wird uns die Beschäftigung mit Elija zugemutet. Er steht für den ersten unabhängigen Gerichtspropheten Israels. Die Elijaerzählung in 1 Kön 17–2 Kön 2 kann zudem als Verteidigung der Gerichtsprophetie insgesamt gelesen werden.1 Diese ist jedoch äusserst ambivalent: Vollkommen notwendig ist die Kritik sozialer, religiöser und politischer Missstände (exemplarisch: die Naboterzählung 1 Kön 21). Aber die grausigen Drohungen, dass Gott die Missstände durch brutalste Gewalttätigkeit ausräumen wolle, sind entschieden abzulehnen! Nicht nur aus heutiger Sicht: Die Bibel selbst wendet sich zuhauf gegen das gewalttätige Gottesbild der Gerichtspropheten. Auch die heutige Lesung, Elijas Begegnung mit der Witwe in Sarepta, kann im Zusammenhang mit 1 Kön 17–19 als Hinterfragung von religiöser Gewalttätigkeit gelesen werden. Allerdings nur, wenn man den Text gegen den weiteren Kontext liest und mit 19,13 enden lässt.

Mit Israel lesen

Nach 1 Kön 16,21 ff. wirkte Elija in der Zeit der Omriden im 9. Jh. v. Chr. Diese regierten drei Königsgenerationen lang im Nordreich Israel und betrieben eine Politik des Ausgleichs und der Versöhnung mit den Nachbarvölkern durch Heiratspolitik und Vertragsschlüsse, in deren Zusammenhang sie auch Baals-/Aschera-Kulte zuliessen/förderten. Archäologische Funde belegen eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte für das Nordreich dieser Zeit. Von Elija und seinem Nachfolger Elischa wird die Toleranz gegen kanaanäische/phönizische Religion jedoch als Götzenkult dargestellt, der für alles Schlechte verantwortlich gemacht wird. Die Ressentiments entladen sich v. a. an der «bösen fremden Frau» Isebel (2 Kön 9,30–37), einer phönizischen Königstochter aus Sidon, die mit Ahab, einem Sohn Omris, verheiratet war. Ahab und Isebel gilt Elijas Kampf. Der biblische Text trägt jedoch durchaus Züge, die man gewaltkritisch lesen kann:

(1) Elijas Provokation (1 Kön 17,1): Elija tritt völlig unvermittelt auf und ruft gegen Ahab eine Dürrekatastrophe aus. Der Text sagt allerdings nicht, dass Elija von Gott einen Auftrag dazu erhalten hätte. Soll man annehmen, dass der selbstsichere JHWH-Prophet von sich aus diese Dürrekatastrophe provoziert? Jedenfalls ergeht erst nach der Provokation das Wort JHWHs an Elija (V2).

(2) Die Raben (17,2–7): Elija wird von Gott weggeschickt – vielleicht um noch schlimmeres Unheil durch diesen übereifrigen Propheten zu verhindern? – um sich am Bach Kerit zu verstecken. Warum gebietet Gott ausgerechnet Raben, Elija dort zu verpflegen (V3)? Gemäss der Torah gelten doch «alle Arten von Raben» als unrein (Lev 11,15). Beim «Brot und Fleisch» (V6), das sie Elija bringen, wird es sich um Abfallbrot und Aas handeln. Eine fürstliche Bewirtung, wie immer wieder behauptet wird, ist dies nicht! Vielmehr macht sich Elija durch das Essen von Aas unrein (Dtn 14,21)! Zudem vertrocknet der Bach, womit Elija selbst Opfer seiner provozierten Dürre wird. Elija könnte bereits hier lernen, dass im Namen Gottes provozierte Gewalt schliesslich zurückwirkt auf den Gewaltansager und -täter.

(3) Die Witwe von Sarepta (17,8–24): Doch Elija bekommt noch eine zweite Lernchance: Er wird von Gott ausgerechnet ins Gebiet der phönizischen Stadt Sidon geschickt, dem Herkunftsort der verhassten Königin Isebel! Mitten hinein ins Gebiet des Gottes Baal, den Elija doch so sehr in Israel auszurotten wünscht! Wohl völlig widerwillig bittet er dort die Witwe zuerst nur um «ein wenig Wasser zum Trinken» (V10), und erst als sie weggeht, ruft er ihr, überwältigt vom Hunger, nach, sie möge ihm auch noch «einen Bissen Brot» mitbringen (V11). Die Witwe erwidert, dass sie und ihr Sohn selber am Sterben sind vor Hunger. Scheinbar intuitiv verheisst Elija der Witwe daraufhin im Namen JHWHs, dass sie und ihr Sohn nicht mehr zu hungern brauchen, wenn sie die «Handvoll Mehl», die sie noch hat, mit ihm teilt. Ein «doppeltes Wunder» geschieht: Dass Gott seine Verheissung erfüllt, gehört zum biblischen Glaubensgut. Das grössere Wunder im Zusammenhang der Elijaerzählung jedoch ist, dass die Witwe der Verheissung vertraut. Sie erweist damit dem fremden Gott / der ausländischen Religion Respekt und begegnet dem hungernden Ausländer Elija mit bewundernswerter Solidarität. Die Witwe erscheint durch ihr Handeln als die im eigentlichen, tieferen Sinne Gottesfürchtige. Elija könnte hierdurch lernen, dass eine Dürre vor allem die Armen trifft und dass Fremdländische und Andersgläubige gottesfürchtig Handeln können.
Der Sohn der Witwe stirbt im Folgenden aufgrund einer Krankheit (V17). Die Witwe klagt Elija an, er habe ihrem Sohn den Tod gebracht (V18). Hierauf schreit Elija – ein erstes Mal zweifelnd? – vorwurfsvoll: «JHWH, mein Gott, willst du denn auch über die Witwe, in deren Haus ich wohne, Unheil bringen und ihren Sohn sterben lassen?» (V20). JHWH erhört das Flehen Elijas und gibt dem toten Kind das Leben wieder. Hierauf sagt die Witwe zu Elija: «Jetzt weiss ich, dass du ein Mann Gottes bist und dass das Wort JHWHs in deinem Mund ist» (V24).
Elija könnte lernen, dass JHWH und sein Prophet auch bei Andersgläubigen und fremden Völkern auf Anerkennung stossen, wenn sie nicht Tod, sondern Leben bringen.

(4) Der Showdown (18,1–46): Vielleicht meint Gott, Elija habe dies alles nun gelernt, wenn er ihn zu Ahab schickt, mit der Absicht, Regen auf die Erde zu senden (V1). Doch Elija ist auf Vernichtung aus und fordert einen Götterkampf auf dem Karmel. Die bekannte Szene ist völlig überzeichnet und entbehrt nicht der Ironie: Der von Elija so bedeutungsvoll mit «zwölf Steinen» aufgebaute JHWH-Altar (V30–32) wird durch das von Elija geforderte Feuer JHWHs sogleich wieder zerstört (V38).

5) Verzweiflung und Gottesbegegnung (19,1–14): Isebel trachtet Elija für die von ihm umgebrachten Baalspropheten nach dem Leben. Bereits nach einem Tag Flucht, wünscht sich Elija, der so vielen den Tod brachte, nun selbst den Tod: «Nun ist es genug, JHWH. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter» (V4). Hier erst, in der verzweifelten Selbsterkenntnis, kommen nicht mehr Raben, sondern Engel Gottes und umsorgen Elija. Am Gottesberg Horeb schliesslich, lässt sich Elija nicht von «Sturm», «Erdbeben» und «Feuer» aus der Höhle locken – denn Gott ist für ihn nicht mehr in diesen Allgewalten. Erst als Elija etwas für ihn Neues hört, «ein sanftes, leises Säuseln», wird er fähig, wenigstens an den Eingang der Höhle zu treten und Gottes Stimme zu vernehmen, die ihn fragt: «Was willst du hier, Elija?» (V13).
Die Tragik der Elijaerzählung ist, dass sie nicht mit dieser Frage endet (so wie das Jonabuch mit einer Frage Gottes endet). Die (deuteronomistischen) Geschichtsschreiber können einen verzweifelt-zweifelnden, «sanften» Propheten nicht brauchen: Elija wird von «ihrem» Gott abgesetzt und soll noch gewalttätigere Leute salben (19,15–18).

Mit der Kirche lesen

Die Witwe, die von Jesus im Evangelium als Vorbild gerühmt wird, weist zwei starke Gemeinsamkeiten mit der Witwe von Sarepta auf: Wie diese setzt sie ihren «ganzen Lebensunterhalt» – und damit ihr eigenes Leben – solidarisch für andere ein. Und sie dient – in der Zusammenstellung mit Mk 12,38–40 – als Gegenbeispiel zu jenen Menschen, die zur Zeit Jesus ihre Rechtgläubigkeit betonen und zur Schau stellen, aber nicht Recht und Gerechtigkeit und damit nicht Gottes Willen tun.

1 So die These von Rainer Albertz: Elia. Ein feuriger Kämpfer für Gott (Biblische Gestalten 13), Leipzig 2006.