Wir beraten

Wer ist «Efraim»?   

Dieter Bauer zur Lesung am 30. Sonntag im Jahreskreis SKZ 42/2009

Alttestamentliche Lesung: Jer 31,7–9
Evangelium: Mk 10,46–52

Texte der Bibel – und das gehört für mich nach so vielen Jahren immer noch zum Faszinierendsten – haben einen «Überschuss» an Bedeutung. Sie lassen sich niemals so endgültig erklären, dass man dann alles verstanden hätte. Immer wieder neu ergeben sie einen Sinn, der in unser Leben spricht. So alt sie auch sein mögen und so fremd sie uns auch manchmal vorkommen. Es lohnt, sich an ihnen zu «reiben»: «Gottes Wort ist wie ein Kräutlein, je mehr du es reibst, desto mehr duftet es» (Martin Luther).

Mit Israel lesen

Die drei Verse des alttestamentlichen Lesungstextes sind dem Jeremiabuch entnommen. In diesem Buch finden sich nicht nur Worte dieses Propheten, der miterleben musste, wie Jerusalem Anfang des 6. Jh. v. Chr. in den Untergang geschliddert und schliesslich zerstört worden war, sondern auch spätere «Fortschreibungen». Zu diesen gehört das sogenannte «Trostbüchlein» (Jer 30–31), in dem sich unser Lesungstext findet. Es wurde wohl erst zur Zeit des Exils verfasst und enthält vielfach Anklänge an die Sprache des Trost- und Hoffnungspropheten Deuterojesaja (Jes 40–55).
Diese Hoffnungsprophetie für Jakob-Israel-Efraim (Jer 31,7.9) nimmt zwar Drohworte Jeremias auf, wandelt sie dann aber um in Verheissung: War in Jer 6,22 von einem «Volk … vom Nordland … von den Grenzen der Erde» die Rede, einem «grossen Volk», das gegen Jerusalem anstürmt und Furcht und Schrecken verbreitet, nämlich von den Babyloniern, so hören wir hier, dass JHWH «sein Volk rettet» und «heimbringt aus dem Nordland», wohin sie verschleppt worden waren, indem er sie «von den Enden der Erde sammelt» (Jer 31,7 f.). War «diesem Volk» in Jer 6,21 angedroht worden, dass Gott ihnen «Hindernisse in den Weg legen würde, so dass sie darüber straucheln», so werden sie nun bei ihrer Rückkehr «als grosse Gemeinde … einen ebenen Weg» vorfinden, «wo sie nicht straucheln» (Jer 31,9; vgl. Jes 40,3; 49,11).
Man kann sich nun mit dieser historischen Erklärung des Textes zufrieden geben, dass Propheten der Exilsgemeinde Trost und Hoffnung auf Heimkehr verbreitet haben. Man kann aber auch fragen, was dieser Text an «Überschuss» bereithält für spätere Leserinnen und Leser. Wo verbirgt sich ein Schlüssel für heute?
In der jüdischen Auslegung dieses Textes hat man diesen «Überschuss» immer gesehen. So fragt der Midrasch zum Schlussvers unseres Textes: «Denn für Israel bin ich Vater, und Efraim: mein Erstgeborener ist er» (Jer 31,9): «Auf wen bezieht sich das Wort ‹er›?» Und er antwortet: «Auf die Tage des Mes¬sias, auf die zukünftige Welt, und auf keinen anderen als auf ihn …» (Peschiqta Rabbati, Pisqa 34)1.
Wie kommt der Midrasch auf die Idee, in Efraim den Messias, den «Gesalbten» (hebr. maschiach) zu sehen?
Innerhalb des Judentums gibt es bekanntlich mehrere Konzeptionen, wie man sich diesen «Messias» vorstellt. Die uns Christen geläufigste ist die vom «Messias, Sohn Davids», einer königlichen Herrschergestalt, die (am Ende der Tage) den Thron des Vaters einnehmen und Israel wieder herstellen würde. Auch das Neue Testament kennt diese jüdische Vorstellung vom «Sohn Davids» (s. u. Mk 10,47 f.).
Wesentlich unbekannter aber ist die jüdische Vorstellung von einem leidenden (und sterbenden) Messias,2 dem «Messias, Sohn Josefs». Von ihm sagt der Talmud in Zusammenhang mit einer Auslegung des Propheten Sacharja (Sach 12,12), was denn mit der dort erwähnten «Trauer» gemeint sei: «Hierüber streiten R. Dosa und die Rabbanan: einer sagt, [die Trauer] um den Messias, den Sohn Josefs, der dann getötet wird, und einer sagt, um den bösen Trieb, der dann getötet wird. – Einleuchtend ist es nach demjenigen, welcher sagt, um den Messias, den Sohn Josefs, der dann getötet wird, denn es heisst: Und sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben. Sie werden um ihn klagen, wie man um den einzigen Sohn klagt; sie werden bitter um ihn weinen, wie man um den Erstgeborenen weint (Sach 12,12)» (bSukka 52a).
Auch wenn Lazarus Goldschmidt in seiner Talmudübersetzung anmerkt: «Dieser Name ist übrigens so auffällig, dass die Entlehnung aus dem Urchristentum nicht zu übersehen ist»,3 muss dies nicht die richtige Erklärung sein. Wesentlich plausibler scheint mir, dass es eine Linie gibt von «Efraim, Sohn Josefs» zum «Messias, Sohn Josefs». Man kann nämlich zeigen, dass die Namen «Jakob», «Israel» und «Efraim», die innerhalb der Bibel oft für das «Nordreich» stehen, im Exil übergreifende Bedeutung für den «Rest Israels» (Jer 31,7 u. ö.) erhalten, der (noch) in der Diaspora lebt. «Efraim» kann so zur Identifikationsfigur für das zerstreute Judentum in der Diaspora werden. Rettung und Erlösung für diese Menschen aber werden von einem «Messias» erwartet. Dieser Messias, so lesen wir es im Midrasch Peschiqta Rabbati, ist ein (mit seinem zerstreuten Volk) leidender Messias, der durch sein Leiden Erlösung schafft. Von ihm spricht JHWH: «Sein Name ist Efraim, mein gerechter Gesalbter. Er wird sich erheben, er und sein Geschlecht, wird die Augen Israels erleuchten und sein Volk erlösen» (Pisqa 36). Wie in christlicher Auslegung wird Ps 22 auf ihn bezogen, aber auch Jes 53. Von ihm sprechen die Erzväter: «Efraim, unser gerechter Gesalbter, obwohl wir deine Voreltern sind, bist du doch grösser als wir, denn du hast die Sünden unserer Kinder getragen, wie es heisst: Doch wahrlich, unsere Krankheit trug er, und unsere Schmerzen lud er auf sich. Wir aber hielten ihn für von Gott bestraft, von Gott geschlagen und geplagt. Aber er wurde durchbohrt um unserer Übertretungen willen, zerschlagen wegen unserer Missetat; die Strafe, uns zum Frieden, lag auf ihm, und durch seine Wunden sind wir geheilt» (Pisqa 37).

Mit der Kirche lesen

Beide «Spuren» eines Messiasverständnisses, die vom leidenden und sterbenden «Messias, Sohn Josefs» und die vom königlichen «Messias, Sohn Davids», finden wir auch in der neutestamentlichen Deutung Jesu von Nazaret. Im Evangelium (Mk 10,46–52) erfleht der «Sohn des Timäus» die Hilfe Jesu. Er ruft den «Sohn Davids». Dieser öffnet ihm die Augen aber nicht als der königliche Messias, sondern als der fragende, sich ihm zuwendende mitleidende: «Was soll ich dir tun?» Diese Begegnung mit dem mitleidenden und dadurch «glaub-würdigen» (Mk 10,52) Messias öffnet ihm die Augen.
Macht und Ohnmacht Gottes kommen auch in seinem Messias zum Ausdruck. Ich habe deshalb nicht den Eindruck, dass das Reden vom Messias Christen und Juden trennen muss. Die uns beide gemeinsam beschäftigende Frage, warum dem sein Volk erlösenden «Messias, Sohn Davids» ein leidender und sterbender «Sohn Josefs» vorausgehen muss(te), wäre doch eine gute Gesprächseröffnung.

1 Hier und im Folgenden zitiert nach: Kurt Hruby: Aufsätze zum nachbiblischen Judentum und zum jüdischen Erbe der Frühen Kirche (ANTZ Bd. 5). Berlin 1996, 293 ff.
2 Einen guten Einblick gibt: Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Der leidende Messias in der jüdischen Lite¬ratur, in: Judaica 54 (1998), 132–143.
3 Der Babylonische Talmud (ins Deutsche übersetzt von Lazarus Goldschmidt), Bd. III. Frankfurt a. M. 1996, 399, Anm. 35.