Wir beraten

Eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte   

Rita Bahn zur Lesung am 29. Sonntag im Jahreskreis SKZ 40-41/2009

Alttestamentliche Lesung: Jes 53,10–11
Evangelium: Mk 10,35–45

Auslegungen zum vierten Gottesknecht-Lied, aus dem unser Text stammt, finden Sie auch in den SKZ-Ausgaben 175»«‰(2007), Nr. 12, 176»«‰(2008), Nr. 10, und 177»«‰(2009), Nr. 14.
Die beiden Verse aus Jes 53 erzählen eine Erfolgsgeschichte, die so ganz anders ist als Menschen sie sich im Allgemeinen vorstellen. Hier geht es nicht um die Befriedigung von Ansprüchen, nicht um Ruhm, Prestige, Geltungsdrang und Machtstreben. Hier wird einer beschrieben, der vollends am Ende ist und von dem man doch nicht sagen kann, dass er gescheitert ist und vergebens lebt. Im Gegenteil: Der Zerschlagene, Verachtete, Ohn-Mächtige wirkt das Eigentliche.

Mit Israel lesen

Die vorausgehenden Verse beschreiben ihn als Menschen voller Schmerzen, dessen Aussehen Abscheu hervorruft, der verachtet und isoliert, zum Prügelknaben geworden ist, sozial also schon gestorben und wohl auch dem physischen Tod nah. Sollte er doch noch auf irgendeinen wohlmeinenden Menschen treffen, wird er Mitleid erregen, aber gewiss kein Gefallen finden.
Genau das aber findet er bei Gott. Warum? Weil er die Schuld anderer auf sich lädt und sein Leben stellvertretend für sie als Sühnopfer hingibt – wie es die Einheitsübersetzung nahelegt? Dem wider­spricht Dtn 24,16: «Väter sollen nicht für ihre Söhne und Söhne nicht für ihre Väter mit dem Tod bestraft werden. Jeder soll nur für sein eigenes Verbrechen mit dem Tod bestraft werden.» (vgl. Ez 18,20, 2 Kön 14,6). Von diesem ausgetretenen Deutungspfad weg führt die Übersetzung von Gradwohl: «Doch der Herr hatte Gefallen an Seinem Zerschlagenen und machte ihn krank. – Wenn seine ­Seele eine Schuld setzt (anerkennt), wird er Nachkommen sehen, wird die Tage verlängern, und der Wunsch des Herrn gelingt in seiner Hand. Nach der Mühsal seiner Seele sieht er, wird er satt. Durch sein Wissen wird Recht schaffen der Gerechte. Mein Diener, für viele, und ihre Schuld wird er ertragen.»1
Gott ist anders: Ihm kann gefallen, was Menschen entsetzt, weil er nicht auf den Anschein, die Form, die Oberfläche achtet. Der Schein trügt ja oft: Ein «frommer» Mensch muss noch keiner sein, der seine spirituellen Erfahrungen in Handeln umsetzt und Mitgefühl und Liebe tatsächlich lebt. Ein «schlechter» Mensch trägt womöglich doch liebevolle Gedanken im Herzen. Bei Gott muss auch Scheitern kein Ende, ein schweres Schicksal keine Vernichtung bedeuten; es kann ein Zu-Grunde-Gehen sein im Sinn von auf den Grund geführt werden, um bei dem, was im Letzten zählt, anzukommen.
In seinem Knecht trifft Gott nun auf einen Menschen, der sich nicht in Selbstmitleid ergeht, der sich nicht beklagt und Gott nicht für sein schreckliches Schicksal verantwortlich macht. Er weicht nicht aus, sondern stellt sich dem, was ist. Unabhängig von seinem Erleben erkennt er seine grundsätzliche Schuldhaftigkeit an und steht zu seiner konkreten Schuld. Er trägt sie ganz bewusst, kommt nicht auf die Idee, sie auf jemand anders abzuwälzen, der dann für ihn den Sündenbock spielen soll. Der Tora gemäss wird er für Wiedergutmachung (Num 5,5–7) und Versöhnung (s. auch Mt 5,23»«‰f.) sorgen.
Solches Bewusstsein und solches Handeln entsprechen der Gerechtigkeit Gottes und ermöglichen Heilung und Rettung seines Knechts. Als Früchte einer solchen Lebensweise verheisst der Text einerseits Nachkommen und ein langes Leben und andererseits Erkenntnis, die zutiefst befriedigt und befriedet. (Hier trifft sich unsere Perikope mit den Texten des vergangenen Sonntags, in denen das Streben nach Weisheit alles Gute mit sich bringt und die Ganzhingabe in die Nachfolge Jesu einen Zuwachs an Beziehungen gewährt.)
Aufgrund seiner existentiellen Erfahrung ist es dem Gottesknecht möglich, anderen beizustehen und ihnen zu zeigen, worauf es ankommt. Er tritt für Gerechtigkeit ein und verhilft Geschädigten, Unterdrückten, Missachteten zu ihrem Recht. Er wird andere Menschen nicht meiden, sondern kann sie nehmen, wie sie sind, kann sie eben auch in ihrer Schuldhaftigkeit ertragen und ist gerade dadurch für sie wie für das Gelingen des Plans Gottes ungeheuer hilfreich.

Mit der Kirche lesen

Im heutigen Evangelium lässt das Anliegen des Jakobus und des Johannes Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem zum dritten Mal innehalten, um seine Jünger auf sein – und möglicherweise auch ihr – Leiden hinzuweisen. Er wird die zwei gut verstanden haben: Ihre Gedanken und ihr Begehren sind so menschliche Gedanken, ist so menschliches Begehren. Er fragt sie einfach, ob sie bereit sind, es ihm gleich zu tun und Lebensweise und Schicksal eines Gottesknechts zu teilen. Die Jünger antworten Jesus gleichermassen überzeugt wie naiv: «Wir können es.» Und er macht ihnen unmissverständlich klar, dass es eben das ist, worauf es ankommt und dass ihr Verlangen nach den guten Plätzen, nach der Teilhabe an der Herrschaft keinerlei Bedeutung haben.
Vielleicht erscheinen die Worte, die Jesus benutzt, radikal, sogar gnadenlos. Sie sind aber gnädig, weil sie menschliche Bequemlichkeit enttäuschen und nicht zulassen, dass Jünger wie heutige Glaubende sich in ihrem Leben als Christen/Christinnen täuschen. Sie fordern auf, damit zu rechnen, dass nicht alle schönen Träume wahr werden (– und dabei spielt es keine Rolle, ob es egoistische oder uneigennützige Träume sind), dass im Gegenteil auch Scheitern dazugehört, Leiden, kleine und grosse Tode nötig sein können. Jesus appelliert, den einfachen Dingen Priorität einzuräumen: für­ein­ander da zu sein, geschwisterlich das Leben miteinander zu teilen, eben zu dienen, nicht zu herrschen. Impliziert darin ist auch die Bitte, zu vertrauen, immer ein bisschen mehr und irgendwann vielleicht grenzenlos. D.»«‰h. dann, auch im Scheitern, im Untergehen, im Nichts noch die Kraft des Lebens und die Liebe Gottes im Auge zu behalten.
Und schliesslich will Jesus mit seinen Worten in einer speziellen Art auch ermächtigen, denn «wahre Macht hat nichts mit Gewalt, Herrschaft, Grösse oder Geld zu tun. Wahre Macht ist der beharrliche Mut, sich mit dem Ungelösten und Unfertigen wohlzufühlen».2

1 Roland Gradwohl: Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen 4. Stuttgart 1989, 255.
2 John O’Donohue: Echo der Seele. München 1999, 249.