Wir beraten

Richtig leben in der Krise   

Peter Zürn zur Lesung am 28. Sonntag im Jahreskreis SKZ 40-41/2009

Alttestamentliche Lesung: Weish 7,7–11
Evangelium: Mk 10,17–30

Die beiden Lesungen aus Weisheit 7 und Markus 101 haben etwas gemeinsam: Sie fragen nach dem richtigen Leben in einer Weltordnung, die in die Krise geraten ist. Damit sprechen sie auch in unsere krisenhafte Welt hinein.

Mit Israel lesen

Als das Buch der Weisheit entstand (1. Jhdt. v. Chr. in Alexandria in Ägypten) waren grosse politische Umwälzungen im Gange. Octavian und Marcus Antonius rangen um die Macht im Römischen Imperium. Die Aufteilung von Einflussspähren zögerte den Bürgerkrieg nur hinaus, den schliesslich Octavian, der spä­tere Kaiser Augustus, für sich entschied. Die ägyptische Herrscherin Kleopatra aus der Dynastie der Ptolemäer war mit Marcus Antonius verbündet. Beide nahmen sich kurze Zeit später das Leben. Alexandria, das in der Folge als persönlicher Besitz des Octavian unter römische Besatzung geriet, war eine multikulturelle Grossstadt mit grossen sozialen Gegensätzen. Die meisten der Bewohnerinnen und Bewohner waren Zugewanderte unterschiedlicher Kulturen und Religionen. 40% der Menschen lebten in Sklaverei. Ca. 20% der Bevölkerung waren Jüdinnen und Juden und bildeten die bedeutendste jüdische Gemeinschaft ausserhalb Israels. Die politische Lage war instabil. Der Bürgerkrieg führte zu Leid und Flucht. Was die neue Herrschaft für die Stadt und speziell für die jüdische Gemeinde bringen würde, war ungewiss.
Das Buch der Weisheit formuliert in diese Situation hinein eine fiktive Mahnrede des Königs Salomos an die Machthaber der Welt. Ihr zentrales Thema ist das der Gerechtigkeit. «Liebt Gerechtigkeit, ihr Herrscher der Erde», heisst es programmatisch in 1,1. Dabei ist das Buch wohl in erster Linie an die jüdischen Menschen in der Stadt und im ganzen römischen Imperium gerichtet. Es geht um eine Auseinandersetzung innerhalb des Volkes Israel. Gefragt wird, wie in dieser Situation, in der bestehenden krisenhaften Weltunordnung, nach der Gerechtigkeit Gottes, d. h. nach den Weisungen der Tora, gelebt werden kann. Die «Könige und Herrscher» sind diejenigen im Volk, die über Grundbesitz, Reichtum und Macht verfügen – trotz der Krise oder gerade deswegen, als Profiteure der Krise. Ihnen steht eine immer grösser werdende Gruppe ohne materielle Absicherung und politischen Einfluss gegenüber. Die Mächtigen werden ermahnt, mit dem Volk als Ganzem verbunden zu bleiben und ihren Besitz und ihren Einfluss zugunsten der Armen und Machtlosen einzusetzen.
Der Lesungstext ist in einen grösseren Kontext eingebunden. In den Kapiteln 6–8 lehrt König Salomo die Könige der Welt die Weisheit. Im literarischen Ich Salomos relativiert der Text selbstbewusst die Macht der Herrscher und unterstellt sie Gottes Gericht. Massstab des Urteils sind die Weisungen Gottes, die Tora (6,4–5). Kapitel 7 beginnt damit, dass Salomo sich und alle Mächtigen daran erinnert, dass sie genau wie alle anderen Geborene und Sterbliche sind (7,1–6). Den so auf ein menschliches Mass Zurechtgerückten preist der Text die Weisheit als unvergängliches und leicht zu findendes Gut an (6,12–16). Weisheit steht dabei nicht im Widerspruch zu Machtpositionen, sondern leitet zu wahrer Herrschaft an (6,20). So wird die Weisheit gleichermassen den Mächtigen und ihrem Volk «von Nutzen sein» (6,24–25). In 7,7–11 erzählt Salomo werbend von seinen eigenen Erfahrungen mit der Weisheit. Sie hat für ihn Vorrang vor Reichtum, Gesundheit und Schönheit. Gleichzeitig erhielt er aber mit der Weisheit «alles Gute» und «unzählbare Reichtümer» (7,11). Leider lässt die Leseordnung Vers 12 weg, wo dieser scheinbare Widerspruch aufgelöst wird: «Ich freue mich über sie alle [die Reichtümer], weil die Weisheit lehrt, sie richtig zu gebrauchen.» Der richtige Gebrauch besteht in Uneigennützigkeit: «Neidlos gebe ich weiter, ihren Reichtum behalte ich nicht für mich» (7,13).

Mit der Kirche lesen

Das Markusevangelium entsteht ebenfalls in einer Zeit der Krise. Schon zur Zeit Jesu spaltete die römische Besatzung das Volk. Manche kooperierten und kollaborierten mit der Besatzungsmacht, die grosse Mehrheit litt unter ihr, vereinzelt kam es zu Widerstand. Zur Zeit des Markusevangeliums ist aus Aufständen in Galiläa ein Krieg geworden, in dessen Folge Jerusalem und der Tempel von den römischen Truppen zerstört wurden. Tausende wurden getötet oder in die Sklaverei verkauft. Der Krieg gegen die Römer war zugleich ein innerjüdischer Bürgerkrieg. Die einen wollten den Kampf bis zum Letzten und erwarteten das baldige Eingreifen Gottes, die anderen wollten sich den Römern unterwerfen. Im von den Legionen belagerten Jerusalem werden alle zu Opfern des Krieges. Aber wie in jedem Krieg gab es auch in diesem Profiteure. Einer von ihnen war der Historiker Josephus, der zu den Römern überlief und sich nach dem römischen Kaiserhaus der Flavier benannte. Er verkörpert geradezu die Frage, wie man als Jude im römischen Imperium überleben und richtig leben kann. Der reiche Mann im Evangelium ist ebenso eine Verkörperung dieser Frage und spitzt sie noch zu: Reicht es, die Gebote der Tora zu halten, um das Leben zu gewinnen, das wirklich von Dauer ist? Jesus antwortet im Geist des Königs Salomo aus dem Weisheitsbuch: Alles hängt daran, mit wem du verbunden bist. Entscheidend ist die Solidarität mit den Menschen im Gottesvolk, in erster Linie mit den Armen und Machtlosen, die durch die herrschenden Verhältnisse besonders bedroht sind. Darin besteht die Gerechtigkeit, zu der die Weisheit Gottes anleitet. «Ihren Reichtum behalte ich nicht für mich», formuliert Salomo mit Blick auf die Situation der jüdischen Gemeinde in Alexandria. «Geh, verkaufe was du hast, gib das Geld den Armen», verschärft der Jesus des Markusevangeliums die Aussage unter dem Eindruck der jüdischen Katastrophe des Jahres 70.
Gefragt, was zu tun ist, um das Leben zu gewinnen, erinnert Jesus an die 10 Gebote. Allerdings erwähnt er nur Gebote, die mit der Beziehung zwischen Menschen zu tun haben. Die Gebote, die auf die Beziehung zu Gott ausgerichtet sind, fehlen. Sie fehlen so augenfällig wie die Bereitschaft des reichen Mannes, sich solidarisch mit den Armen des Volkes zu erweisen. Aber genau in dieser Solidarität zeigt sich die Beziehung zu Gott. Die Solidarität mit den Geringen ist die Gerechtigkeit Gottes (vgl. Weish 6,6). Wer Solidarität übt, wird der Beziehung Gottes zu den Menschen gerecht.
Nach der Katastrophe des Jahres 70 ist offen, wie es mit dem Volk Gottes weitergeht. Mk 10,29 ist ein Echo auf die schmerzhaften Trennungen innerhalb des Judentums dieser Zeit – ein Bruch ist bis heute geblieben. Mk 10,30 aber atmet Vertrauen, dass sich auch unter den Bedingungen der Krise Menschen solidarisch miteinander verbinden und dem Evangelium folgen. Die gute Nachricht Gottes berichtet von der besonderen Gerechtigkeit, in der die 10 Gebote, ja die gesamte Tora, die Weisung zum Leben, gründen: «Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus geführt hat» (Ex 20,2).

1 Der Paralleltext bei Lk 18,18–30 ist der Text des Bibelsonntags 2009. Im Zentrum steht das Bild vom Kamel und dem Nadelöhr, in dem unsere Frage nach dem richtigen Leben in der Krise zugespitzt ist. Die Ökumenischen Unterlagen zum Bibelsonntag finden sich unter: www.bibelwerk.ch/index.php?&na=1,5,0,0,d