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Gehört der Geist exklusiv dem Amt?   

Winfried Bader zur Lesung am 26. Sonntag im Jahreskreis SKZ 38/2009

Alttestamentliche Lesung: Numeri 11,25–29
Evangelium: Markus 9,38–43.45.47–48

Religiöse Amtsträger haben nicht nur den Geist, sondern auch klare Aufgaben und Befugnisse. Wenn andere begeistert einen Dienst in der religiösen Gemeinschaft tun, kontrolliert das Amt. Das geht von den Mädchen, die nicht in jedem Altarraum als Ministrantinnen zugelassen sind, bis zu den Vorschriften, wem erlaubt ist, das Brot erinnernd zu brechen.

Mit Israel lesen

Der Beginn der Lesung (Num 11,25) ist eigentlich das Ende der vorangegangenen Erzählszene. Mose ist in einer schwierigen Lage zwischen dem zornigen Gott und dem murrenden Volk, das des Mannas überdrüssig ist (Num 11,6), eine Undankbarkeit, die eigentlich schnell geahndet und auf Linie gebracht werden sollte. Doch Mose reagiert ganz anders: Er ergreift für das Volk Partei gegen Gott, weist Gott auf seine unmittelbare Verantwortung als Mutter dieses Volks hin (Num 11,12) und bittet um Unterstützung, gibt zu, das ein so grosses Amt einen Einzelnen überfordert: «Ich kann dieses Volk alleine nicht mehr tragen, es ist mir zu schwer» (Num 11,14). Früher schon, als Mose unter der Last des alleinigen Richteramts zu brechen drohte, war es sein Schwiegervater, der dies erkannte, und ihm eine verantwortliche Delegation dieser Aufgabe an bewährte Männer vorschlug (Ex 18,13–27). Jetzt greift Gott selbst das Ansinnen des Mose auf, lehnt die Demission zwar ab, reagiert aber auf die Überforderung und lässt 70 Männer auswählen, «damit sie mit dir [Mose] an der Last des Volkes tragen und du sie nicht mehr allein tragen musst» (Num 11,17). Eine vernünftige Lösung, die als Abschluss der Szene – das ist der Beginn der Lesung – am Offenbarungszelt ausgeführt wird. Gott nimmt – wie in Num 11,17 angekündigt – etwas von dem Geist, der auf Mose ruht, und legt ihn auf die 70. Sie beginnen aber nun nicht, wie es in der Ankündigung hiess, die Last mitzutragen, sondern geraten in prophetische Verzückung, ein Zustand, der schon in 1 Sam 10,11 bei Saul erstaunt skeptisch beurteilt wird: «Ist auch Saul unter die Propheten gegangen?», hier aber eine sehr positive Anteilnahme an dem geistbegabten Offenbarungsmittler Mose ist. An seinem prophetischen Geist erhalten die Ältesten Anteil, es ist das Charisma und die besondere Kompetenz zur Führung, eine an das Wort Gottes – und damit an Mose, denn nur mit ihm redet Gott – zurückgebundene Autorität. Dieses prophetische Weissagen ist nicht die klassische Zukunftsschau, sondern die torabezogene Gegenwartskritik. Soweit entspricht die Szene der heutigen Weihe- und Amtstheologie, überraschend ist lediglich das Moment, das Mose seine Überforderung zugibt, was ein heutiger Priester, zuständig für 7 Gemeinden, nicht darf, und ein Bischof von Rom, zuständig für die ganze Welt, nicht macht.
Die folgende Szene, der Kern der heutigen Lesung, liest sich zunächst wie eine harmlose Anekdote, die eine kleine Komplikation einführt, um eine Gelegenheit zum Fortsetzen der Erzählung zu bieten. Sie ist aber ein Gegenmodell zu dem ersten Modell der vermittelten Teilhabe am Geist. Es fällt sofort auf, dass das Leitwort «Lager» ist (in Num 11,26–27 kommt es gleich dreimal vor). Man bemerkt nun, dass das Offenbarungszelt nicht wie in Num 1–10 im Zentrum des Lagers steht, sondern ausserhalb – wie es gleich in Num 12,4 gesagt wird und auch in Ex 33,7 war. Zwischen dem Bereich der ausgewählten Amtsträger am Zelt und dem Lager des Volkes besteht eine räumliche Trennung. Ein Rest findet sich im Chorgitter vieler Schweizer Kirchen.
Eldad (sprachlich vermutlich mit dem akkadischen Namen Dãdi-ilu verwandt, bedeutet «Gott ist (wie) ein Onkel / ein Freund» oder «Gott hat geliebt») und Medad (verwandt mit dem keilschriftlich belegten Namen Mudada bedeutet «Geliebter» oder «Liebling»), die auf der Liste der Ältesten standen, waren nicht zum Offenbarungszelt hinausgegangen (Num 11,26). Warum das so war, verschweigt der Text, der Talmud und die Rabbinen machen sich darüber Gedanken:
Der Vorgang der Auswahl der 70 stellen sie sich folgendermassen vor: Alle, die es auszuwählen galt, wurden auf eine Liste geschrieben und dann durch Los ausgewählt, denn 10 Stämme dürfen je 6 Älteste stellen, zwei Stämme jedoch nur 5. Mose sagte: Kein Stamm wird auf mich hören, einen Ältesten aus seinem Stamm nicht zuzulassen. Also nahm Mose 72 Tafeln, schrieb auf 70 «Ältester» und liess 2 leer. So mussten alle 72 Designierten ein Los ziehen, und zu denen, die ein leeres Los zogen, sagte Mose: Der Allmächtige will dich nicht (Sifrei Beha’alothecha 1:42:21, Sanh. 17a).
Warum blieben Eldad und Medad im Lager? Der Talmud meint: Sie hatten Angst, beim Losverfahren eine Niete zu ziehen, daher nahmen sie daran nicht Teil. Dagegen sagt Rabbi Schimeon, sie waren zwar durch das Los nominiert, fühlten sich nicht würdig und gingen nicht. Die weitere Diskussion der Rabbinen, der Platz ist für eine Darstellung leider zu knapp, ist ein Musterbeispiel an Toleranz für eine andere Meinung. Stets werden beide unterschiedlichen Positionen mit Sorgfalt dargestellt und mit Scharfsinn durchdacht, ohne dass am Ende eine Entscheidung gefällt wird, wer Recht hat. Der Austausch der Argumente ist wichtiger als eine eindeutige Dogmatik.
Rabbi Schimeon fährt dann fort: «Darauf sprach der Heilige, gepriesen sei Er: Da ihr euch herabgesetzt habt, so will ich zu eurer Auszeichnung noch mehr Auszeichnung hinzufügen» (Sanhedrin 17a). Ihre Weissagung im Lager war also in den Augen Gottes eine gute Tat. Josua dagegen will die Trennung von Amt und Volk aufrechterhalten und dem Geist verbieten, diesen Graben zu überspringen. Rambam schreibt: «Wer nicht zum Stiftzelt gekommen war, hatte sich aus der Gemeinschaft der Inspirierten ausgeschlossen und war als aufsässig gegen den Befehl des Mosche zu betrachten. Deshalb forderte Jehoschua: «wehre ihnen.» Er meinte, dass vielleicht ein böser Geist über sie gekommen war, der ihnen lügenhafte Aussagen in den Mund legte. Aber Mosche reagierte darauf in seiner grossen Bescheidenheit, indem er sagte: «‹Dass doch das ganze Volk des Herrn Propheten wären, dass der Herr Seinen Geist auf sie lege!›, denn der Geist des Herrn kam über Eldad und Medad ohne die Vermittlung des Mosche, möge sich diese Gnade auf das ganze Volk erstrecken!». Mose befürwortet diese Demokratisierung des Geistes. Auch ausserhalb der institutionalisierten Führung gibt es Charismen und Kompetenzen, Sachautorität und Orientierung am göttlichen Wort. Für die gelebte Gottesnähe des ganzen Volkes ist das förderlich.

Mit der Kirche lesen

Jesus, der von seinen Jüngern, die im Sinne Josuas für geregelte Bahnen des Geistwirkens sorgen wollen, mit einem ähnlichen Fall konfrontiert wird, reagiert mit der Gelassenheit des Mose: «Wer nicht gegen uns ist, ist für uns.» Er erkennt, was heute oft nicht gesehen wird: Auch wenn sich der Geist an unerwarteten Stellen äussert – z. B. im Volk –, dann ist das nicht ein Angriff auf das Amt, sondern ein wertvoller Beitrag zur Stärkung der Kirche.