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Nicht nur sauber, sondern rein   

Peter Zürn zur Lesung am 22. Sonntag im Jahreskreis SKZ 33-34/2009

Alttestamentliche Lesung: Dtn 4,1–2.6–8
Evangelium: Mk 7,1–8.14–15.21–23

Das Evangelium zeigt uns Jesus als Juden, der sich intensiv mit den Reinheitsgeboten der Bibel auseinandersetzt. Ich möchte Ihnen die etwas anachronistische, aber hoffentlich produktive Frage mitgeben, ob Jesus hier eher als orthodoxer oder eher als liberaler Jude erscheint.

Mit Israel lesen

Dtn 4 ist für Rabbiner W. Gunther Plaut eine «Miniatur des gesamten Buches»1. Es fasst die Weisungen Gottes für Israel zusammen. Das Kapitel ist wie der Vertrag eines Bundesschlusses gestaltet, die Verse 1–8 bilden den Prolog. Im Judentum ist Vers 2 besonders wichtig geworden. Er regelt den Umgang mit dem Bundesvertrag in der Zukunft: «Fügt nichts hinzu und nehmt nichts davon weg!» Plaut vermutet, dass das zunächst an die Schreiber gerichtet war, die den Text abschrieben2. Später wurde der Vers – zusammen mit der Parallele in Dtn 13,1 – im Streit um die Tora-Auslegung verwendet. Dabei reflektierten die jüdischen Schriftgelehrten darüber, dass Dtn 4,2 im Plural, Dtn 13,1 aber im Singular formuliert ist. Dtn 4 wurde auf die Leitungspersonen in der Gemeinde bezogen. Sie würden hier gemahnt, jederzeit kenntlich zu machen, was rabbinische Auslegung ist und was aus dem Pentateuch stammt. Dtn 13 dagegen richte sich an jede und jeden einzelnen und mahne zu vollständiger und sorgfältiger Befolgung der Weisungen. Entsprechend weist Dtn 4,6 an, die Gesetze und Rechtsvorschriften zu achten (= zu lehren und zu lernen) und zu halten (= entsprechend zu handeln).

Die jüdische Beziehung zur Tora ist durch eine dynamische Spannung geprägt: Einerseits werden die überlieferten Texte wortwörtlich, genauer: buchstabengetreu, bewahrt, andererseits werden die Weisungen je nach den Bedürfnissen neuer Zeiten ausgelegt. Die Auslegung ist an die Buchstaben des Textes zurückgebunden, die Buchstaben (ursprünglich bestand der Text ja nur aus Konsonanten) sind offen für Deutungen. Beides – der überlieferte Text und die Auslegung – ist Tora. Das Judentum spricht von der schriftlichen und der mündlichen Tora, auch wenn die mündliche Tora später selbst wieder in Mischna und Talmud verschriftlicht wurde. Entscheidend ist die Überzeugung, dass sowohl die schriftliche als auch die mündliche Tora am Sinai offenbart wurden. Jede neue Auslegung bringt also «nur» das ins Wort, was das Volk von Anfang an von Gott empfangen hat.

Die Rabbinen entwickelten im Laufe der Zeit Regeln und Kriterien für die Tora-Auslegung. Das rabbinische Gespräch verkörpert sozusagen den Raum, in dem die schriftliche Tora bewahrt und die mündliche Tora verbindlich entfaltet wird. Plaut weist aber daraufhin, dass dieses System nur solange bruchlos funktionierte, «wie Juden in einem im Wesentlichen konservativen und oft begrenzten Umfeld lebten, in dem Glaube und Gewohnheit den Existenzrahmen darstellten».3 In der europäischen Aufklärung geriet es in die Krise. In dieser Krise entstand das liberale Judentum und löste sich vom orthodoxen Judentum ab. Das liberale Judentum will weniger den Buchstaben, als den Geist der Überlieferung bewahren und fortsetzen. Es betont vor allem die ethischen Aspekte des Judentums und stellt sich damit ausdrücklich in die Tradition der biblischen Prophetie.

Mit der Kirche lesen

Der Text aus dem Markusevangelium führt mitten hinein in die innerjüdische Auseinandersetzung um die Tora und ihre Auslegung. Lässt Jesus, indem er alle Speisen für rein erklärt» (7,19), die alttestamentlichen Reinheitsgebote hinter sich? Geht es ihm – und Markus mit Blick auf seine Gemeinde – um die innere Haltung von Menschen, um ihr «Herz» (7,21), statt um die äussere Einhaltung von Vorschriften? Diesem Verständnis, das im Christentum leider weit verbreitet ist, widerspricht der Text. Er legt sogar nahe, dass es offensichtlich nur einige Jünger Jesu sind, die ihr Brot mit unreinen Händen essen, nicht aber Jesus selbst (7,2). Jesus scheint sich wie die Pharisäer und alle Juden (7,3) durchaus an die Überlieferung der Alten zu halten.

Ist hier die markinische Gemeinde abgebildet? Einige ihrer Mitglieder stammen aus dem «Heidentum» und kennen die jüdischen Gebote nicht aus eigener Erfahrung. An sie richten sich die ausführlichen Erklärungen. Markus sucht also Anknüpfungspunkte für die jüdischen Reinheitsgebote im Lebensalltag «heidnischer» Menschen und findet sie im Händewaschen vor dem Essen und nach dem Marktbesuch. Die nichtjüdischen Gemeindemitglieder sollen das Verhalten der anderen, der jüdischen Gemeindemitglieder, wenigstens grundsätzlich verstehen und achten können. Jesus dagegen gibt das Modell für die jüdischen Mitglieder der Gemeinde vor: die überlieferten Gebote halten, ohne dies anderen aufzuzwingen.

Es geht aber noch um mehr als darum, das Verhalten der jeweils Anderen in der Gemeinde zu achten. Die Reinheitsgebote stehen exemplarisch für die «Überlieferung der Alten» (7,3). Es geht grundsätzlich um die Geltung der jüdischen Weisungen für das Zusammenleben in einer Gemeinde aus jüdischen und nichtjüdischen Menschen. In dieser Auseinandersetzung erweist sich Jesus als einer, der klar und deutlich für die Einhaltung der überlieferten Weisungen eintritt. Es ist ihm als Juden ernst mit diesen Weisungen und er kritisiert jüdische Menschen, die sie nicht ernst genug nehmen, die nur Lippenbekenntnisse ablegen und Gebote durch Interpretationen ausser Kraft setzen. Jesus agiert hier also als Anwalt der Weisung in Dtn 4,2 und 13,1. Die Gebote sollen eben nicht nur auf den Lippen getragen werden, sondern ins Herz der Menschen eindringen und dass heisst biblisch: ihre Haltungen und ihre Handlungen bestimmen. Jesus tritt gegen eine laxe Gesetzesauslegung auf. Er fordert von jüdischen Menschen das strenge, ins Herz dringende und aus dem Herzen hervorgehende Achten und Halten der Gebote. Dann und nur dann sind die Gebote auch für die Heiden von Bedeutung und so fordert Jesus heidnische Menschen auf, «sich in dieses jüdische System der Unreinheit hineinzudenken und sich mit ihren Haltungen und Handlungen, mit ihrem ganzen Lebensvollzug danach auszurichten».4 Rituelle Reinigung und Ethik gehören eng und untrennbar zusammen. Das ist bereits in der Hebräischen Bibel so. Die Reinheitsgebote dienen der Reinigung und Heiligung des ganzen Menschen in all seinen Lebensvollzügen.

Eine kurze Bemerkung zur Theologie der Reinheitsgebote: Die Unterscheidung von «rein» und «unrein» macht sichtbar, dass das Leben von Ordnungen des Lebens und Ordnungen des Todes geprägt ist. Der Tod ist das radikal Unreine. Das Halten der Reinheitsgebote ruft zur täglichen Ent-Scheidung für die schöpferische, lebenschaffende Ordnung Gottes und gegen die Chaosmächte des Todes auf. Die Reinheitsgebote verbinden Menschen mit dem Wirken Gottes bei der Schöpfung: Gott unterscheidet durch sein Wort und schafft dadurch Raum zum Leben. Diesem Wort soll nach Dtn 4,2 nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden.

1 W. Gunther Plaut: Die Tora – in jüdischer Auslegung. Band 5: Deuteronomium/Dewarim. Gütersloh 2004, 80.
2 Plaut führt dafür altorientalische Parallelen an. Ebd. 88.
3 Ebd. 89.
4 Beide Zitate von Andreas Pangritz: Jesus und das «System der Unreinheit», oder: Fernando Belo die Leviten gelesen, in: Texte und Kontexte 24 1984, 28–46, hier 38.