Wir beraten

Wann entscheiden wir uns?   

Winfried Bader zur Lesung am 21. Sonntag im Jahreskreis SKZ 33-34/2009

Alttestamentliche Lesung: Jos 24,1.2a.15–17.18b
Evangelium: Joh 6,60–69

Der moderne Mensch will möglichst ohne Zwänge leben. Ständig sollen alle Möglichkeiten offen bleiben. Bis hin zur Karikatur kann man das jetzt im Sommer beobachten, wenn Autos mit Surfbrett und Deltagleiter auf dem Dach, dem Velo hinten aufgeschnallt, das Töff im Schlepptau und Tauch- und Bergausrüstung im Kofferraum unterwegs sind für kurze Ferien. Alle Möglichkeiten für jedes Wetter und jede Laune stehen offen, nichts muss ausgelassen werden, und am Ende wird der Berg nicht mal bestiegen, weil sonst wertvolle Stunden auf Surfbrett oder Velo verloren gingen. Und das wird dann mit Freiheit verwechselt. Nichts gegen das Privileg, dass die meisten Menschen in der Schweiz geniessen, frei zu leben. Doch: «Vivre c’est choisir!» Wirkliches Leben gelingt nur in der Entscheidung, wenn die gegebene Freiheit von Zwängen zu einem eigenen Weg genutzt wird.

Mit Israel lesen

Josua stellt die Stämme Israels vor eine solche Entscheidung. Mit dem Abschluss der Eroberung des gelobten Landes – so die Textfiktion des Josuabuches – ist die Möglichkeit für eine freie Entscheidung geschaffen, kein äusserer Zwang ist mehr gegeben. Aber die Zukunft kommt nur mit einer Entscheidung.

Josua wählt für diese Entscheidung den Ort Sichem. Das ist bedeutungsvoll. Bühnenbild der bisherigen Aktionen Josuas war vor allem Gilgal. Dort zog das Volk durch den Jordan (Jos 3,14–17), dort wurden 12 Steinmale als Gedenken an dieses Ereignis errichtet (Jos 4,20), dort wurde die Beschneidung durchgeführt (Jos 5,1–9) und dort war der Lagerplatz in der Zeit der Landnahme (Jos 5,10; 9,6; 10,15.43), ein denk-würdiger Ort also, an dem man das Volk zum Nachdenken über eine solche Entscheidung hätte herausfordern können.

Ein anderer geeigneter Ort wäre Schilo, wo am Ende der Landnahme das Offenbarungszelt aufgeschlagen (Jos 18,1) und das Land per Los verteilt wurde (19,51).

Mit der Wahl des Orts Sichem dagegen greift Josua weit zurück. Für den inszenierten Schlussakt ist es optimal geeignet. Es geht um eine Entscheidung für YHWH und gegen alle anderen Götter. Für Abraham ist Sichem der erste Ort im verheissenen Land, wo YHWH im erschien, und wo er den ersten Altar im Land bei der Orakeleiche errichtet (Gen 12,6–7). Unter dieser Eiche stellt auch Josua am Ende einen Stein auf (Jos 24,26). Ebenfalls unter der Eiche in Sichem vergrub Jakob alle fremden Götter seiner Sippe (Gen 35,4). So sind mit der Wahl des Orts Sichem die Alternativen vorgegeben und der Ausgang der Entscheidung vorgezeichnet.

Josua eröffnet seine Rede mit einem Blick auf die drei grossen Epochen der Geschichte Israels mit seinem Gott (Jos 24,2–13). Das Wichtigste daraus ist im Lesungstext in V.15 angedeutet:

«Die Götter eurer Väter» (V. 15), das ist die Epoche der Erzeltern Zeit: «Jenseits des Stromes wohnten eure Väter von Urzeiten an, Terach, der Vater Abrahams und der Vater Nachors, und dienten anderen Götter» (Jos 24,2). Abraham wurde herausgerufen und mit der Überschreitung des Stromes Eufrat hat er sich gegen die Götter seiner Väter und für YHWH entschieden.

«Schafft die Götter fort, denen eure Väter … in Ägypten gedient haben» (Jos 24,14) ist die Epoche des Exodus, wo wiederum die Durchschreitung eines Wassers, des Schilfmeers, die Abwendung von den Göttern und die Zuwendung zu YHWH bedeutete.

Die «Götter der Amoriter» (Jos 24,15) gehören zur Epoche der Landnahme. Nach Num 21,25.31 siedeln die Amoriter im Osten des Jordan und Israel wohnte dort, bevor sie dann den Jordan – zum dritten Mal ein Wasser – überquerten, um in die neue, jetzige Situation zu gelangen. Nach Jos 7,7 sind die Amoriter die Bewohner des verheissenen Lands selbst.

Josua fordert eine freie Entscheidung. Die Möglichkeiten liegen offen da: Die Götter Terachs, die Götter Ägyptens, die Götter der Amoriter – alle sind bekannt und können als Entscheidungsmöglichkeit gelten. Auch YHWH ist bekannt, seine Geschichte mit dem Volk wurde ja soeben (Jos 24,2–13) ausführlich erinnert. Es kann frei gewählt werden. Josua fordert die Entscheidung, Leben heisst auswählen, ein Weiterleben mit der Offenheit der Möglichkeiten gibt es für ihn nicht. Er selbst geht entscheidungsfreudig voran: «Ich aber und mein Haus, wir wollen YHWH dienen» (Jos 24,15).

In zwei weiteren Redegängen (in Fortsetzung des Lesungstexts) fragt Josua nochmals nach und weist zunächst (Jos 24,19–21) darauf hin, dass die Entscheidung folgenschwer ist, denn im Sinne des Deuteronomiums wird YHWH die Entscheidung einfordern und einen Abfall von ihm und dieser Entscheidung dann verfolgen und bestrafen. Der zweite Hinweis (Jos 24,22–24) zeigt die Unwiderruflichkeit der Entscheidung und ihre juristische Gültigkeit.

Das Volk antwortet seinerseits ebenfalls mit dem Rückblick auf die gemeinsame Geschichte mit YHWH: Er hat «uns aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt», er hat «vor unseren Augen Wunder getan», «er hat uns beschützt auf dem ganzen Weg». Es ist eine unmittelbare Betroffenheit, die eigene Erfahrung, die das Volk zu dieser Entscheidung bringt.

Es ist die Entscheidung hin zu einer Person – das ist in diesem Text wichtig wahrzunehmen: HERR ist in der deutschen Übersetzung die Ersatzform für den Gottesnamen YHWH. Name bedeutet aber zugleich die Zugänglichkeit der Person. Es ist eine Entscheidung für eine Beziehung zu einem personalen Gegenüber, dessen Namen Gegenwart bedeutet (ICH-BIN-DA) und der gegenwärtiges Sein, das ist ein Leben, das aus den vielen Möglichkeiten bereits ausgewählt hat und so präsent bei sich ist, erwartet.

Die Formulierung der Entscheidung ist theologisches Programm, wie es im berühmten Schma Jisrael (Dtn 6,4) bekannt wird, und wie es z. B. die Propheten Elija («Mein Gott ist YHWH») oder Joël («YHWH ist Gott») in ihrem Namen tragen: Von «YHWH unserm Gott» spricht das Volk in V. 17, und am Ende kommt die Affirmation: «Er (= YHWH) ist unser Gott.» Die Entscheidung ist also nicht philosophisch, dass ein Gott existiert, auch nicht theologisch, dass nur ein Gott anzuerkennen ist, sondern persönlich: YHWH, den wir beim Namen nennen dürfen, er ist Gott, nicht irgendeiner, sondern Gott für uns.

Mit der Kirche lesen

Im Evangelium zwingt Jesus – hebr. Jehoschua = Josua – die Menschen um ihn ebenfalls zu einer Entscheidung. Etwas schwach antwortet Petrus: «Zu wem sollen wir gehen?» (Joh 6,68). Er sieht anders als das Volk in Sichem nicht mögliche Alternative. Die zunächst persönliche Aussage von Petrus: «Wir sind zum Glauben gekommen», bleibt dann auch bei einer theologischen Erkenntnis ohne weiteren persönlichen Bezug stehen: «Du bist der Heilige Gottes» (Joh 6,69).

Unsere jüdischen Glaubensgeschwister leben bis heute mit dem Bewusstsein: «WIR selbst sind mit aus Ägypten ausgezogen und wurden befreit» und entscheiden sich aus dieser Erfahrung für ihren Glauben. Wann haben wir eine solche persönliche Erfahrung und Betroffenheit, die zur Entscheidung für unseren Glauben führt?