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Weisheit und Christus   

André Flury-Schölch zur Lesung am 20. Sonntag im Jahreskreis SKZ 31-32/2009

Alttestamentliche Lesung: Spr 9,1–6
Evangelium: Joh 6,51–58

Die johanneische Christologie hat verschiedene Anleihen bei frühjüdischen Weisheitstheologien gemacht.1 Auch die Ich-bin-Worte haben eine ihrer zahlreichen Wurzeln in den Ich-Aussagen der «Weisheit» (hebr. chokmah, grie. sophia). 2 Dies sei Anlass, im Folgenden nach der biblischen Tradition der «Weisheit» zu fragen.

Mit Israel lesen

Biblische Weisheitsworte sind auch heute noch bekannt und – so ist daraus zu schliessen – plausibel: «Der Mensch denkt, Gott lenkt» (vgl. Spr 16,9); «Hochmut kommt vor dem Fall» (Spr 16,18); «Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein» (vgl. Spr 26,27); «Nichts Neues unter der Sonne» (Koh 1,9).
Mit «Weisheit» bezeichnet man in Bezug auf die Bibel einerseits theologische Strömungen, die sich auf (die) Weisheit beziehen, in verschiedenen Schriften vorzufinden sind und im alten Israel über alle Jahrhunderte präsent waren, andererseits aber auch bestimmte biblische Bücher: die hebräischen Bücher Ijob, Sprüche und Kohelet sowie die erst spät und in griechischer Sprache verfassten Bücher Weisheit Salomos und Jesus Sirach.
Biblische «Weisheit» hatte Vorläufer in der «internationalen» Weisheit im gesamten Alten Vorderen Orient. So nimmt etwa Spr 10–29 in der Königszeit viele der ägyptischen und mesopotamischen Weisheitstraditionen auf und ergänzt sie mit eigenen Beobachtungen und Erkenntnissen. Da die Sammlungen von Weisheitslehren an Königshöfen aufgeschrieben worden sind, werden biblische Weisheitsschriften nachträglich zumeist Salomo, dem weisen König schlechthin (1 Kön 5,9 f.; 10,23), zugeschrieben (Spr 1,1; Koh 1,1 usw.).
«Weisheit» will Orientierung im Leben und Zusammenleben der Menschen geben. Gerechtigkeit und Wohlergehen sollen dabei Richtschnur sein (vgl. Spr 10,2; 11,4). Gewonnen werden die Einsichten aus dem alltäglichen Leben, wobei verschiedentlich betont wird, dass «Weisheit» letztlich von Gott gegeben wird (vgl. Hi 28). Neben (ethischen) Lebensregeln kann auch handwerkliches Tun als «weise» qualifiziert werden (vgl. Ex 28,3; 31,1–11; 35,25–36,2). Zudem werden explizit auch weise Frauen genannt: Frauen, die durch kluges Handeln ihre Städte vor Bedrohun-
gen retten (vgl. 2 Sam 14; 20,14–22), können als Vorbilder für die personifizierte «Frau Weisheit» gelten, die ihr «Haus baut» – während Torheit das Haus niederreisst (Spr 9,1; 14,1). 3
Die Personifizierung der «Weisheit» erfolgt in nachexilischer Zeit. Die Aufarbeitung der Krise (Zerstörung des Tempels; Exil) sowie die Auseinandersetzung mit persischer und hellenistischer Kultur brauchen neue theologische Ausdrucksformen. «Frau Weisheit» ist eine davon. Sie füllt in gewisser Weise auch die Lücke, welche die Verdrängung der Göttinnen (vgl. Jer 44; 2 Kön 23,6 u. ö.) im Zuge der Entstehung des Monotheismus hinterlassen hat. «Frau Weisheit» erhält eine tragende Rolle im Rahmen des Sprüchebuches (1–9; 31,10–31) und hierin besonders im Hymnus der Weisheit (8,22–31). Sie erscheint u. a. – wie auch im Lesungstext ersichtlich – als Baumeisterin (Spr 9,1), als Gastgeberin/Schenkin (9,2 f. 5) und als Lehrerin des Weges zum Leben (9,4.6). In Spr 8 wird von «Frau Weisheit» Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft ausgesagt – was im Johannesprolog auf den Logos übertragen wird. In der kurz zuvor entstandenen Weisheit Salomos (1. Jh. n. Chr.) wird die «Frau Weisheit» parallel zu Gottes Geist gesetzt (vgl. Weish 1,4–6) und ist die Lehrerin der Gerechtigkeit (1,1–6,21).
In der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus und im Ringen um die eigene Identität gab es zahlreiche innerjüdische Konflikte, wie sich auch an den unterschiedlichen Weisheitstheologien zeigt. Zwei Beispiele aus dem 2. Jh. v. Chr. seien genannt: Jene, die hinter dem Buch Jesus Sirach stehen, versuchen «hellenistische Bildungsweisheit» zu integrieren und zu überbieten: «Weisheit» wird mit der Torah gleichgesetzt (vgl. Sir 1,26; 19,20; 24,23), die den Strukturplan der Welt und des Lebens enthält, und der Tempel von Jerusalem wird als Wohnsitz der Weisheit proklamiert (Sir 24,7–10).
Eine andere Position vertritt das äthiopische Henochbuch: Die hinter dieser Schrift stehende jüdische Gruppe hat sich aus Protest gegen die Hellenisierung vom Tempel zurückgezogen – und behauptet dies auch von der «Weisheit» bzw. von Gott: «Die Weisheit ging aus, um unter den Menschenkindern zu wohnen. Und sie fand keine Wohnung. Die Weisheit kehrte an ihren
Ort zurück und nahm ihren Sitz unter den Engeln» (äthHen 42,2). Deutlich sind einmal mehr die Parallelen zum Johannesprolog: «Er (der Logos) war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf» (Joh 1,10 f.). – «Weisheit» kann sich keinen Zugang erzwingen, wo sie aber gesucht und gefunden wird, schenkt sie Leben (vgl. Spr 8,25).

Mit der Kirche lesen

Der eucharistischen Rede (Joh 6,51–58) geht es in erster Linie darum, dem Doketismus zu wehren: Wie aus dem Johannesevangelium und den Johannesbriefen (zudem auch aus den Ignatiusbriefen) ersichtlich wird, gab es – auch innerhalb der johanneischen Gemeinde – Leute, welche nur den Vater im Himmel und den himmlischen Christus für heilsrelevant hielten, das Menschsein des geschichtlichen Jesus, die Identität vom irdischen Jesus mit dem erhöhten Christus, jedoch bestritten (1 Joh 2,19.22 u. ö.). 4 Dem hält das Johannesevangelium entgegen, dass Jesus ein Mensch von Fleisch und Blut war: Jesus ist nicht nur dem Schein nach Mensch geworden: «… das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt…» (Joh 1,14). Jesus hat folgedessen nicht nur dem Schein nach gelitten, ist nicht nur dem Schein nach gestorben, nicht nur dem Schein nach auferstanden. Ebenso ist der Gekreuzigte und Auferstandene nicht nur dem Schein nach gegenwärtig in der Eucharistie, sondern «wahrhaftig» (vgl. Joh 6,55). So wählt Joh 6,51 ff. in Bezugnahme auf Joh 1,14 für das eucharistische Brot das Deutewort «mein Fleisch» (grie. sarx) – entgegen den Synoptikern und Paulus, die jeweils mit «mein Leib» (grie. soma) formulieren (Mk 14,22 par.; 1 Kor 11,24). Joh will damit sagen: Der in der Eucharistie Gegenwärtige ist kein anderer als der Inkarnierte, Gekreuzigte und Auferstandene. Es geht bei den Ausdrücken «Fleisch» und «Blut» also nicht um ein dinglich-äusserliches Verständnis der Gaben Brot und Wein, sondern um den Glauben, dass sich der menschgewordene Gottessohn Jesus von Nazaret aus Liebe hingegeben hat «für das Leben der Welt» (Joh 6,51).

1 Auch die Spruchquelle Q macht solche Anleihen (vgl. Mt 11,19 // Lk 7,34 f.; Mt 23,34–36 // Lk 11,49–51). Vgl. zum Ganzen u. a. Jacques Trublet (Hrsg.): La Sagesse biblique de l’ancien au Nouveau Testament (Lectio divina 160). Paris 1995.
2 Andere Wurzeln sind: Ex 3,14 (LXX); Jes 43,10 f.; 45,12 (LXX); religiöse Aussagen in Ägypten sowie die altorientalische Botenvorstellung (vgl. Hartwig Thyen: Ich-bin-Worte, in: Reallexikon für Antike und Christentum 17 [1996], 147–213).
3 Vgl. Silvia Schroer: Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften. Mainz 1996, 63–79.
4 Es wird sich dabei um eine starke Anpassung an griechische Religionsphilosophie handeln.