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Leben auf Probe   

Peter Zürn zur Lesung am 18. Sonntag im Jahreskreis SKZ 29-30/2009

Alttestamentliche Lesung: Ex 16,2–4.12–15
Evangelium: Joh 6,24–35

Fahrausweis und Ehe auf Probe, das Leben im Probe-Abo? Probezeiten müssen nicht Unverbindlichkeit fördern. Sie sind auch lebensnotwendige Zeiten des Lernens und des Erprobens unerwarteter Fähigkeiten.

Mit Israel lesen

«Die Wüste ist Israels Erprobungsfeld, und sie ist der Platz, wo Gott sich ein Volk erwirbt.»
So beginnt Rabbiner W. Gunther Plaut seine Auslegung von Ex 15,22–16,36. Erprobung und Erwerb des Volkes gleichen der Schöpfung. In der Wüste erschafft Gott sich ein Volk. «In der Geschichte Israels, dem gerade geschaffenen Volk Gottes, soll das Thema der Erschaffung der Welt aufgegriffen werden. Das ‹Man1› und der Schabbat spiegeln die Urgeschichte… wider.» 2
Plaut weist daraufhin, dass die Nahrung, die das Volk Israel in der Wüste fand und die es 40 Jahre lang ernährte, natürliche Vorbilder hat: So sammeln z. B. Beduinen in der Wüste Sinai bis heute Manna, eine Substanz, die von Tamariskenbäumen tropft und von den Ausscheidungen von Insekten, die in Symbiose mit der Tamariske leben, stammt. Neben vielen Ähnlichkeiten zur Erzählung in Ex 16 überwiegen die Unterschiede: Das Manna der Beduinen z. B. kommt nur in kleinen Mengen vor, ist von bestimmten Wetterbedingungen abhängig und wird nicht regelmässig, dafür aber natürlich auch am Schabbat, gefunden. Ex 16 knüpft an Natürliches an. Es wird aber in Zeichen für etwas Anderes verwandelt, in Zeichen für die Taten und Werke Gottes, die dem Volk Israel zum Leben verhelfen. 3 Das erste und grundlegende Werk Gottes ist die Erschaffung der Welt, die das Leben ermöglicht. Das Man soll das Volk daran erinnern, dass Gottes Fürsorge für das Leben andauert. Israel wird aus der gleichen Kraft erschaffen und erhalten wie die Welt. Das Geschenkhafte des «Himmelsbrotes» (Ps 105,40) verweist auf den Garten Eden, in dem die Menschen sich nicht für ihr Essen abmühen mussten. Seit der Vertreibung aus dem Paradies arbeiten sie im «Schweisse ihres Angesichtes» für ihr täglich Brot – mit Ausnahme der 40 Jahre in der Wüste. Wie das Leben jenseits von Eden gespeist wird aus Erinnerungen an Schöpfung und Paradies – so auch das Leben des Volkes im verheissenen Land aus der Erinnerung an die Wüstenzeit. In der Wüste weist Gott über die «natürliche» (d. h. hier über die nachparadiesisch herrschende) Ordnung hinaus, um die ideale Beziehung zwischen sich und der Menschheit herzustellen – die der lebensspendenden Fürsorge. «Gott ernährt einen Teil seines Volkes [hier meint ‹Volk› die Menschheit PZ], wie er Adam und Eva ernährt hat und fährt fort, dies zu tun, bis der Prozess der Erschaffung dieses Volkes abgeschlossen ist. Deshalb ist die Einsetzung des Schabbats als einem menschlichen Ruhetag die natürliche Entsprechung zur Schöpfungsgeschichte… Der Schabbat der Schöpfung spiegelt sich von nun an in Israels Schabbatfeiern wider und wird in ihr verewigt. Das ‹himmlische Getreide›, die ‹Engelskost› [Weish 16,20] war auf eine bestimmte Zeit begrenzte Gabe, anders jedoch der Schabbat. Er ist für immer Gottes Siegel und Zeichen.» 4 Schabbat und Man sind miteinander verbunden: Am sechsten Tag wird die doppelte Menge gesammelt, damit am siebten Tag geruht werden kann. Das jüdische Brauchtum erinnert bis heute daran mit den zwei Schabbatbroten (Challot).
Gott erschafft sich in der Wüste ein Volk, indem er es erprobt (Ex 16,4). Worin besteht diese Probe? Der Maggid von Mesritz drückt es so aus: «Frei von der Sorge um Brot, war es [das Volk] nun versucht, Gottes Gebote zu missachten.» Ein Midrasch formuliert positiv: «Nur die, die ‹Man› essen (das heisst genug zu essen haben), können wirklich Tora lernen.» 5 Auch die innerbiblische Auslegung der Erzählung in Dtn 8,3 («Der Mensch lebt nicht vom Brot allein…» vgl. Mt 4,4) zeigt in diese Richtung. Brot und Tora verweisen aufeinander. Die Tora wird dem Volk nicht in Ägypten gegeben. Die Weisungen Gottes sind nicht für Sklavinnen und Sklaven, sondern für freie und aufrechte Menschen bestimmt. 6 Das Lernen und Tun der Tora braucht und fordert nicht nur Freiheit, sondern auch gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Menschen genug zu essen haben, d. h. alles, was sie zum Leben entsprechend ihrer Grundbedürfnisse brauchen. Israel lernt die Tora in der Wüste kennen – eine Lebensweise, eine gesellschaftliche Ordnung, in der sich die Schöpfungsordnung widerspiegelt. Das Volk ist dazu berufen, diese Lebensordnung nach der Probezeit in der Wüste im eigenen Land weiterzuführen und sich und die Beziehung zu Gott dabei weiter zu erproben.

Mit der Kirche lesen

Brot als Zeichen, das auf Gott verweist und die Frage nach politischen Ordnungen, die dem Leben dienen – damit sind wir mitten im Johannesevangelium. Der Lesungstext steht in einem grösseren Kontext: Joh 6,1–15 vergegenwärtigt die Mannaerzählung. Jesu Tun wird von den Menschen als Zeichen verstanden – als Zeichen, dass etwas anders werden soll in der bestehenden Weltordnung. Ja, dass schon Neues wirkt, das zugleich etwas uraltes Biblisch-Prophetisches ist (6,14). Jesus will aber nicht zum König gemacht werden, um die neue Ordnung durchzusetzen (6,15). Das Johannesevangelium distanziert sich hier von allen, die die Lebensordnung Gottes mit Gewalt durchsetzen wollen. Aber wie kann sie dann Wirkung entfalten? Ist sie angesichts der herrschenden Weltordnung, dem römischen Imperium, nicht zum Scheitern verurteilt? Dunkelheit, Sturm und aufgewühlte See verkörpern die herrschende, lebensbedrohliche Macht, die Jüngerinnen und Jünger fürchten sich zu recht (6,16–21). Der Messias als König – die Weltordnung würde dafür sorgen, dass er vernichtet oder ein König wie alle anderen wird – kaum jemand würde satt werden. Aber ein Messias, der da ist, ohne dass sich an der herrschenden Ordnung etwas ändert, das lässt auch hungrig zurück. Wie kann sich die Lebensordnung Gottes in dieser Welt durchsetzen? Darum ringen die Menschen in der Synagoge von Kafarnaum (vgl. 6,59). Die Auseinandersetzung erstreckt sich bis 6,71, zeigt die Teilnehmenden als gottesfürchtige und schriftgelehrte Menschen, endet aber wenig optimistisch. Am Anfang steht die Frage: «Wie können wir die Werke Gottes vollbringen?» (6,28). Der Genetivus subjectivus ist problematisch: Die Werke Gottes sind die Schöpfung, die Befreiung Israels und der Bund – für Paulus auch die Gemeinde (vgl. Röm 14,20). Sie alle sind gerade nicht Menschenwerk. Geht es nicht eher darum «Werke für Gott» zu vollbringen (Gen. objectivus), als Antwort und Reaktion auf die Taten Gottes? Also darum, Tora zu lernen und zu tun, damit sich die Schöpfungsordnung in der gesellschaftlichen Ordnung widerspiegelt. Das Johannesevangelium ist davon überzeugt, dass das unter den herrschenden Verhältnissen Roms nicht länger ausreicht. Ein «endzeitliches»7 Eingreifen Gottes tut Not und ist in Jesus Messias Wirklichkeit geworden. Noch ist Joh 6 ein innerjüdisches bzw. jüdisch-christliches Ringen, aber die Bruchstellen werden immer deutlicher. Eine Brücke zueinander ist die gemeinsame Hoffnung, dass allen Opfern der Geschichte endlich Recht geschieht. Erproben wir das Leben aus dieser Hoffnung!

1 Im hebräischen Text wird das Brot «Man» genannt (Ex 16,31). Die uns gebräuchliche Bezeichnung Manna stammt aus der Septuagintaübersetzung von Num 11,6–7.
2 Beide Zitate aus W. Gunther Plaut: Die Tora – in jüdischer Auslegung. Band 2: Schemot/Exodus. Gütersloh 2000, 166. Ich konzentriere mich zur Entfaltung der These Plauts auf das Brotwunder im Lesungstext, die Mannaerzählung. Die Interpretation des Fleischwunders (Wachteln) würde einen eigenen Artikel möglich und nötig machen.
3 Die Mischna löst mögliche Widersprüche zwischen Gott und natürlicher Schöpfung auf, indem sie lehrt, dass das «Man» eines der zehn Wunder ist, die Gott bei der Erschaffung der Welt (in der Dämmerung am Abend des ersten Schabbat) gemacht hat (Abot5,6).
4 Plaut, Tora (wie Anm. 2), 171.
5 Beide Zitate nach ebd. 173.
6 Vgl. die Auslegung in SKZ 177 (2009), Nr. 10, 162.
7 Die Anführungszeichen stehen hier, weil Joh durchaus in jüdischem Verständnis vom «letzten Tag» spricht: der letzte in der Reihe von Tagen der Unmenschlichkeit, der Tag der Entscheidung, die alle kommenden Tage neu macht (vgl. Andreas Bedenbender: Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums I. Teil in: Texte und Kontexte 109–111/2006, 116–119)