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Die unendliche Vermehrung – ein Menschentraum   

Winfried Bader zur Lesung am 17. Sonntag im Jahreskreis SKZ 29-30/2009

Alttestamentliche Lesung: 2 Kön 4,42–44
Evangelium: Joh 6,1–15

Der Wunsch, dass sich lebenswichtige Dinge wie Brot und Wasser oder Luxusgüter wie Wein und Öl ohne Arbeit und Anstrengung unendlich vermehren, ist ein alter Menschentraum, der in vielen Erzählungen von Paradiesen und Schlaraffenländern aufgenommen wurde. Immer wieder gibt es Versuche, diesen Traum in die Realität zu setzen durch Geldanlagen in Schneeballsystemen: z. B. Charles Ponzi 1920 in den USA, die türkische Firma Yimpa® mit dem «Konya-Modell» 1997 bis 2002, oder jüngst bis Dezember 2008 die Hedgefonds von Bernard L. Madoff – die ihm ein Privatvermögen von 823 Millionen US-Dollar brachten, den Anlegern einen Verlust von 65 Milliarden US-Dollar bescherten. Die Lesungen des heutigen Sonntags erzählen ebenfalls davon. Wo liegen hier Gewinn und Verlust?

Mit Israel lesen

Dem Gottesmann – entgegen den Übersetzungen bleibt er im hebräischen Text ohne Namen, der Kontext (2 Kön 4,38; 5,8) legt nahe, es sei Elischa – werden Erstlingsfrüchte aus Baal-Schalischa gebracht. Ob dieser Ort in der Jordanebene bei Jericho zu suchen ist, im Gebirgsland bei Bet-El oder am Rand der Küstenebene zwischen Jafo und Sichem ist offen. Der Talmud (Sanhedrin 11) weiss, es sei eine fruchtbare Gegend, dort wo die Ernte zuerst reif würde. Wenn in Zeiten der Hungersnot – der Talmud geht durch den Kontext des Elischa-Zyklus von einer Hungersituation aus – die Menschen auf die neue Ernte warten, laut Lev 23,14 aber erst von der neuen Ernte gegessen werden darf, wenn die Erstlingsgaben dargebracht sind, so kann nun die Hungersnot überwunden werden.
Die Erstlingsgabe soll zu Gott ins Heiligtum gebracht und dort dem Priester übergeben werden (Ex 23,19; Lev 2,14–16). In der Erzählung kommt diese Gabe nicht zu einem Priester, sondern zum Gottesmann. Ist er der direkte Vertreter Gottes und kann deshalb diese Gaben entgegennehmen? Der Text und die Auslegungen reflektieren das nicht weiter.
Das Bringen dieser Gabe zeigt die Verbundenheit zu Gott, erinnert an die gute Geschichte mit ihm und ist Zeichen der Dankbarkeit, dass Gott das Land gegeben hat (Dtn 26,1–3). Im Bekenntnis Dtn 26,5–10 wird dies formuliert und mit der Aufforderung zur Freude und zum Genuss der Gaben Gottes verbunden: «Dann sollst du fröhlich sein und dich freuen über alles Gute, das YHWH, dein Gott, dir und deiner Familie gegeben hat» (Dtn 26,11). Die Erstlingsfrüchte als Ausgangsmaterie für die nachfolgende Speisung setzen die Szene in einen kultisch-liturgischen Kontext, auch der angesprochene Diener wird im Griechischen leitourgos – (kultisch) Bediensteter genannt (2 Kön 4,43).
Der Gottesmann durchbricht die Vorgabe der kultischen Handlung für die Erstlingsfrüchte, indem er anordnet, sie zu essen. Essen wird zum Leitwort des Textes, zweimal als Befehl des Gottesmanns, dann als Zitat aus dem Munde YHWHs und zuletzt als Meldung des Vollzugs. Essen heisst, die elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, sich das zu nehmen, was man zum Leben braucht. Essen kann man nicht wirklich im Übermass, durch Essen kann man sich nicht bereichern. Raffgier bekommt seine natürliche Begrenzung durch den vollen Magen.
Der Schlüssel für dieses Verständnis liegt in dem Wort «übrig lassen», das im Text auch zwei Mal vorkommt und zwar zuerst prominent in der zitierten Gottesrede: «Essen und übrig lassen!» (2 Kön 4,43). Wenn jeder nur das nimmt, was er zum Essen braucht und das, was er nicht essen kann, übrig lässt, dann funktioniert, dass von dem scheinbar Wenigen viele satt werden. Dieses System kippt dann, wenn ein Einzelner meint, wie Bernard L. Madoff für sich alleine eine Wohnung im Wert von 62 Millionen US-Dollar beanspruchen zu müssen, wo doch bereits ein Bruchteil davon zu einem sehr komfortablen Leben auf hohem Niveau ausreichen würde und die Anderen noch etwas übrig hätten.
Die Erzählung dieses wundersamen Geschehens, das durch den Gottesmann veranlasst wurde, konnte durch seine Unbestimmtheit in Ort und Zeit Elischa zugeschrieben werden. Seine Schüler weisen damit ihrem Lehrer Bedeutung und Wirkmacht zu, die sie untereinander stärkt und ihrer Jüngergemeinde Halt gibt.

Mit der Kirche lesen

Die Parallelen zwischen dem Lesungstext und dem Evangelium des Sonntags sind offensichtlich und gehen bis hin zu Details (Diener, Gerstenbroten, Gegeneinwand). Wie ist das Verhältnis dieser beiden Texte zueinander zu bestimmen?
Betrachtet man sie historizistisch als reale Geschehnisse in der physisch-irdischen Welt und geht – wie die Überschrift der Einheitsübersetzung – von einer «Brotvermehrung» aus, dann liegen zwei Wunder vor, die in ihren Details Unterschiede aufzeigen: In einem Fall reicht es für 100, im anderen für 5000 Männer, falls Frauen und Kinder dabei waren für weit über 10 000 Menschen. Das Wunder, das Jesus wirkt, ist also hundert Mal grösser, das Neue Testament «überbietet» das Erste.
Wählt man den christlich fundamentalistischen Zugang, dann weist man die Erzählung von Elischa dem Bereich der Legenden zu, eine fromme erbauliche Erzählung, die aber so nicht geschehen ist. Das Wunder der realen Vermehrung bleibt für Jesus reserviert, der damit als Sohn Gottes ausgewiesen ist, dem nichts unmöglich ist.
Denkt man in theologischen Mustern, dann erzählt uns Johannes von der Einsetzung der Eucharistie, kommt dieses Wort doch in Joh 6,11 direkt vor: eucharistäsas – gedankt habend. Die Erzählung von Elischa ist die Vorbereitung, die das Geschehen der Speisung bereits in einen heilsgeschichtlichen Kontext einbindet und den Dank der Menschen an die Taten Gottes assoziiert. Johannes knüpft mit den Gerstenbroten – anders als die Synoptiker, die dieses Wort nicht verwenden – direkt daran an. Er verwendet das Wort danken, er lässt Jesus selbst das Brot austeilen und weist auf den Zusammenhang zwischen dem Herrn und der geheimnisvollen Speise hin. Mit den Bratfischen erinnert er an die Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen in Joh 21. Er vermeidet das Wort «Brot brechen», das eine wirkliche Vermehrung assoziieren und an die liturgische Praxis anknüpfen würde. Diese setzt er voraus und vertieft deren Verständnis, indem er den Aspekt des eschatologisch anbrechenden Heils betont, das im Text aus dem Ersten Testament vorbereitet war.
Gewinnbringend ist es, das Verhältnis der beiden Texte literarisch zu fassen, die Tatsache also, dass der Evangelist und seine Leser/-innen den anderen Text gelesen, gekannt und bewusst verarbeitet haben. Der erste Text gibt ihnen die Denkkategorie vor. Sie wissen bereits, eine wunderbare Speisung ist möglich, sie wissen, dass dies zu den Fähigkeiten eines Gottesmannes gehört. So kann in ihren Köpfen Jesus mit diesem ursprünglich namenlosen Gottesmann identifiziert werden, so wie Johannes selbst formuliert: «Dies ist wirklich der Prophet» (Joh 6,14) und es entsteht der gleiche Effekt: Die Jünger/-innen-Gemeinde findet in diesem Gottesmann und Propheten ihre Identität.