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«Ob sie zuhören oder ob sie aufhören»   

Winfried Bader zur Lesung am 14. Sonntag im Jahreskreis SKZ 26/2009

Alttestamentliche Lesung: Ez 1,28b–2,5
Evangelium: Mk 6,1b–6

Leistungsorientiert funktioniert unsere Gesellschaft heute – und das nicht nur in der Wirtschaft. Auch im persönlichen Umgang und kollegialen Gesprächen ist Effektivität angesagt. Wie kann da jemand seine (Lebens-)Aufgabe solcher Beliebigkeit aussetzen: «ob sie hören oder nicht»?

Mit Israel lesen

Eine Stimme redet den Propheten, der bei der Erscheinung der göttlichen Herrlichkeit niedergefallen war, an. Zum ersten Mal wird das Ohr Ezechiels getroffen – nicht durch ein Geräusch wie in der Vision – sondern durch das persönlich anredende Wort. Wer redet, bleibt offen – so wie es in der Vision auch beim Etwas-Sehen-Wie blieb.
Ezechiel wird angeredet: «Menschensohn – Du einzelner Mensch!». Nicht mit Namen, sondern stets durch diesen stereo¬typen Ausdruck wird Ezechiel angesprochen als einzelnes Exemplar der Gattung Mensch. Die Betonung liegt auf adam. Er ist Mensch, im Gegensatz zu Gott. Er gehört zur Kreatur. Nicht mit seinem Namen als individuelle Person, auch nicht mit seinem Titel Prophet in seiner Amtsfunktion ist er angesprochen, sondern als Geschöpf, dem sich die göttliche Majestät und Herrlichkeit in einer Herablassung zuwendet. (Zieht man von diesem Befund aus die Linie zum Menschensohn im NT, erscheint Jesus ganz anders als durch den alleinigen Blick auf Dan 7,13.)
Die Szene in Verse 1–2 ist die Kontaktaufnahme. Ezechiel, der am Boden liegt, wird bereit gemacht zum wirklichen Hören. Er soll sich erheben, in selbstbewusster aufrechter Haltung das Wort empfangen. Dies kann der kreatürliche Mensch aber nicht aus sich, sondern der Geist hilft, verleiht ihm die Lebenskraft, die auch dem aus Erde gekneteten Adam im zweiten Schöpfungsbericht eingeblasen ¬wurde. 52-mal verwendet das Buch Ezechiel das Wort ruach – Geist, Wind, Sturm, Windrichtung, Atem und Lebenshauch, übertragen dann auch als geistiges Zentrum und prophetische Berufungserfahrung zu verstehen.
Die inhaltliche Rede (Verse 3–5), die erneut mit der Anrede «Menschensohn» beginnt, ist klar in drei Teile gegliedert: «Ich sende – Du sollst sagen – sie werden erkennen».
Die Sendung ist das Zentrale für den Propheten. Explizit in drei je einzeln betonten Wörtern (das Hebräische könnte dies auch in nur einem Wort ausdrücken) wird formuliert:
ICH – der Auftraggeber nennt sich, zeigt, dass es sein Wille ist, dass er die Ursache ist,
SENDE – eine Bewegung soll in Gang kommen, es reicht nicht nur aufrecht zu stehen, sondern auf ein Ziel hin loszugehen,
DICH – der Angesprochene, kein anderer, er selbst bekommt diesen Auftrag.
Sendung ist von aussen zugesprochen. Sendung steht nicht für sich selbst, sondern dient einem Ziel (siehe Kasten). Sendung bleibt aber gleichwohl – und das ist die Schwierigkeit vieler biblischen Propheten – eine subjektive Erfahrung, die sich anderen nicht formal beweisen lässt, sondern nur durch entsprechendes Tun erweisen lässt. (Wie ist das mit der Sendung der Kirche?)
Der Inhalt der Botschaft wird nicht wirklich genannt, sondern auf das Eigentliche reduziert (Vers 4): «So spricht mein Herr YHWH.» Ezechiel soll von einem persönlichen Gott, der einen Namen hat, der angesprochen werden kann und sich durch seinen Namen zum Partner der Menschen macht, erzählen. Aber nicht als akademische Rede, sondern als sein eigenes Bekenntnis von «meinem Herrn», zu dem er selbst einen Bezug hat. Das ist sein Amt, nicht Erklärungen und Programme zu verkünden, sondern die personale Bindung an den Sendenden.
In grosser Gelassenheit «ob sie hören oder ob sie aufhören» ist sich Ezechiel der Wirkung gewiss: «sie werden erkennen» (Vers 5). In dem sie ihn als Propheten erkennen, wird er selbst zum Beweis für die Botschaft. Sein Zeugnis ist Indiz und Inhalt zugleich: Er ist als Prophet da, ist das Zeichen für die umfassende Erkenntnis: «Ich bin YHWH, der in der Geschichte handelt.»

Mit der Kirche lesen

Die Verbindung von Ezechiel zur Szene im Markus-Evangelium nimmt den Akzent weg von den kritischen Bewohnern des Heimatdorfs. Es öffnet den Blick für Jesus, den Menschensohn, und seine tief verwurzelte Beziehung zu Gott, die ihn in der gelassenen Gewissheit, dass er erkannt werden wird, weiterziehen lässt zu den «Nationen», den Menschen in den anderen Dörfern. Keine Verurteilung, keine Exklusivität, sondern eine Offenheit – ein schönes Bild auch für die Sendung der Kirche.

Übersetzungen und ihre einseitige Theologie

Missinterpretationen des Ersten Testaments und die Bestimmung des Verhältnisses beider Testamente beginnen oft bei der Übersetzung, wie Varianten zu drei Stellen unseres Textes zeigen.

Menschensohn
Menschensohn, hebr.: ben adam, aram.: bar änasch, gr.: hios anthropou, kommt im Ersten Testament ausser einmal in Ps und Ijob, 93-mal bei Ez und 1-mal bei Daniel vor. Im Neuen Testament ist es in den Evangelien ein häufig verwendeter Begriff (für Jesus), Die Interpretationslinie für das NT geht entgegen dem statistischen Befund ganz auf die Vorstellung in Dan 7,13 zurück, jener endzeitliche Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels. Ezechiel wird kaum adaptiert. Die Lutherübersetzung stützt dies: Dan und NT werden als «Menschensohn» übersetzt, Ez als «Menschenkind», der Zusammenhang von Ez und NT sprachlich zerstört. Die Neue Zürcher Bibel und die Bibel in gerechter Sprache gehen weiter, übersetzen in Dan und Ez «Mensch» und im NT «Menschensohn» bzw. «erwählter Mensch»; die Verbindung ist komplett aufgehoben. Einzig die Einheitsübersetzung bleibt konsequent bei Menschensohn.

Gottesname
Dass die Bibel eine ganz andere wäre, weniger herrschaftlich hierarchisch, sondern mehr personal gegenwärtig, wenn statt der griechischen Übersetzung «Herr» das Tetragramm 7000x in seiner Bedeutung «Ich-Bin-Da» gelesen würde, ist bekannt. Bei Ez kommt etwas hinzu: 434x steht das Tetragramm, und 217 wird es in der Kombination adonai YHWH verwendet. Da adonai auch die Ersatzlesart für das Tetragramm ist, übersetzt LXX teilweise mit kyrios kyrios und veranlasst so die deutschen Übersetzer zu hilflosem «Herr Herr» oder phantasievollem «Gott, der Herr». Eine Herrschaftsaussage über Gott steht aber definitiv nicht im hebräischen Text. Die Anrede durch den Namen YHWH ist eine Beziehung zu einem personalen Gegenüber, nicht zu einem Amtsinhaber. Martin Buber übersetzt (mit einer Veränderung in der Punktierung adoni) «mein Herr YHWH». Wie immer man das Tetragramm wieder gibt – wichtig nur: es ist ein Name und keine Gattungs- oder Berufsbezeichnung – zeigt diese Formulierung ein sehr persönliche Beziehung und Erfahrung Ezechiels, keine theologische Theorie.

Auslassungen
In Ez 2,3 werden in vielen Übersetzungen zwei Wörter «zu den Nationen/Völker» ausgelassen und das folgende Partizip falsch bezogen, z. B. Einheitsübersetzung: «zu den abtrünnigen Söhnen Israels». Richtig dagegen die Neue Zürcher Bibel: «zu den Israeliten, zu Nationen, die sich auflehnen». Die antiisraelitische Tendenz der ersten Übersetzung ist damit weg, und gleichzeitig der universale Blick über das erwählte Volk hinausgerichtet.