Wir beraten

Was Gott uns Menschen zumutet, ist ein Skandal!   

Dieter Bauer zur Lesung am 12. Sonntag im Jahreskreis SKZ 24/2009

Alttestamentliche Lesung: Ijob 38,1.8–11
Evangelium: Mk 4,35–41

Das Buch Ijob (Hiob) gehört zu den bekanntesten Büchern der Weltliteratur. Und selbst Menschen, die wenig oder gar nichts mit Bibel und Kirche am Hut haben, wissen, was «Hiobsbotschaften» sind. Wer Goethes «Faust» kennt, begegnet Ijob auf Schritt und Tritt. Und wenn Franz von Moor in den «Räubern» zu Beginn des 2. Aktes sinniert: «Bis hierher und nicht weiter», dann ist das nicht von Friedrich Schiller, sondern aus dem Buch Ijob (38,11).

Mit Israel lesen

Der heutige Text der alttestamentlichen Lesung ist den «Gottesreden» des Buches Ijob entnommen (Ijob 38,1–40,1; 40,6–41,26): Da antwortete der Herr dem Ijob aus dem Wettersturm und sprach: … Leider erfahren die Hörerinnen und Hörer der Lesung nicht, worauf denn JHWH nun antwortet. Und selbst ein Blick direkt vor unseren Vers würde nicht weiterhelfen, weil sich da nämlich die (später eingeschobenen) Reden eines «Freundes» von Ijob finden, die Reden Elihus, die ganze sechs Kapitel des Buches umfassen (Ijob 32–37). Um die auslösenden Worte für die Antwort JHWHs zu finden, müssen wir noch weiter zurückblättern, nämlich bis Ijob 31,35 f.:
Gäbe es doch einen, der mich hört. /
Das ist mein Begehr, dass der Allmächtige mir Antwort gibt: /
Hier ist das Schriftstück, das mein Gegner geschrieben.
Auf meine Schulter wollte ich es heben, /
als Kranz es um den Kopf mir winden.
Ijob fordert von Gott die Antwort auf alle seine Fragen. Er fühlt sich als schuldlos Angeklagter und hätte keine Angst, sich diese Anklageschrift wie einen «Ehrenkranz» aufs Haupt zu setzen. Fast dreissig Kapitel hat eine Auseinandersetzung Ijobs mit dreien seiner Freunde eingenommen, in denen Ijob fast verzweifelt, weil er – angesichts des Leides, das über ihn und seine Familie hereingebrochen ist – an seinem Gottesglauben irre wird. Am Ende dieser Auseinandersetzung schliesslich wendet er sich von seinen drei dogmatisierenden Freunden ab und will jetzt von JHWH selbst die Antwort haben. Hier setzt dann unser Text ein.
Kaum ein anders Mal wird wie hier in unserer Ijoblesung deutlich, wie problematisch die biblischen Lesungen in unseren Gottesdiensten sind, wenn dies der einzige Ort bleibt, an dem man Texte aus der Bibel hört. Wer das Buch Ijob nie gelesen hat, kann mit diesem «Textschnipsel» schlichtweg nichts anfangen. Und die Predigerinnen und Prediger haben kaum eine Chance, weil sie eigentlich das ganze Buch Ijob dazu erzählen müssten. Ganz abgesehen davon, dass die existentiellen Fragen Ijobs (und diejenigen der Menschen, welche den Gottesdienst besuchen) in den paar Versen des verstümmelten Lesungstextes gar nicht sichtbar werden:
Wer verschloss das Meer mit Toren, /
als schäumend es dem Mutterschoss entquoll,
als Wolken ich zum Kleid ihm machte, /
ihm zur Windel dunklen Dunst,
als ich ihm ausbrach meine Grenze, /
ihm Tor und Riegel setzte
und sprach: Bis hierher darfst du und nicht weiter, /
hier muss sich legen deiner Wogen Stolz?
(Ijob 38,8–11)
Die «Antwort» JHWHs besteht aus (rhetorischen) Fragen. Damit wird er schlicht und einfach «mundtot» gemacht. Für jeden Leser, für jede Leserin des Ijobbuches, die Ijob bis hierher als einen ernsthaft und existentiell Fragenden kennengelernt haben, der auch viele ihrer eigenen Fragen an Gott formuliert hat, ist das ein Skandal! Diesen Skandal hat Ernst Bloch einmal so auf den Punkt gebracht: Gott «antwortet auf moralische Fragen mit physikalischen, mit einem Schlag aus unermesslich finster-weisem Kosmos gegen beschränkten Untertanenverstand».1
Interessanterweise ist das Buch Ijob von Anfang an sowohl in christlicher wie jüdischer Tradition sehr einseitig ausgelegt worden. Eigentlich stand immer der «fromme Dulder» im Vordergrund, wurde Ijob zum Vorbild für das Hinnehmen des von Gott verfügten Schicksals, auch wenn es für den Menschen nicht durchschaubar ist. Angesichts der Tatsache, dass fast 40 der 42 Kapitel des Ijobbuches sich mit der Klage und dem Protest des «Gottesrebellen» Ijob auseinandersetzen, ist das einfach unbegreiflich!
Obwohl der Platz des Buches Ijob im Kanon der biblischen Bücher nie in Frage gestellt wurde, so hat doch beispielsweise kein einziger seiner Texte Eingang in die jüdische Liturgie gefunden. Und auch in kirchlichen Gebets- und Gesangbüchern sucht man die Klage Ijobs vergeblich. Erst die Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen in der Shoah hat hier zu einer neuen Lektüre des Ijobbuches geführt. Der «Skandal» des Buches allerdings ist geblieben.
Elie Wiesel, selbst Überlebender der Shoah, kann mit Ijob, der auf Grund der Gottesreden nicht weiterfragt, sondern «klein beigibt», nichts anfangen. In seinem Roman «Gezeiten des Schweigens» (1962) legt er der Hauptperson, Michael, ebenfalls ein Überlebender von Auschwitz, folgende Worte in den Mund: «Bei mir wird Er [Gott] sich nicht so leicht aus der Affaire ziehen wie bei Hiob. Bei mir wird er nicht so leicht gewinnen. Bei mir wird die Partie kein Kinderspiel sein. Mir macht Er keine Angst. Mich schüchtert Er nicht ein.
Michael liess nicht ab, gegen Hiob zu wettern. Dieser biblische Rebell hätte sich nicht unterwerfen sollen. In letzter Minute hätte er das Haupt erheben, die Faust schwingen und einen gellenden Schrei der Weigerung gegen die transzendente, unmenschliche Gerechtigkeit ausstossen sollen, vor der das Leiden in der Waagschale nichts gilt. Ich werde mich nicht unterkriegen lassen, sagte Michael zu sich. Ich werde ihn fragen: was bedeutet das Versteckspiel, das Du mit deinem Ebenbild treibst.»2

Mit der Kirche lesen

Auch der Text des heutigen Evangeliums spricht eine existentielle Not an: Die Jünger Jesu sind in einen lebensbedrohlichen Sturm geraten, und ihr Schiff droht unterzugehen. Auch sie schreien zu ihrem «Herrn»: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? (Mk 4,38). Mit göttlicher Vollmacht gebietet Jesus dem Wind und der See. Und auch er gibt eine – in eine Frage gekleidete – Antwort: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben? (V. 40).
Was aber wäre dieser «Glaube» denn gewesen? Blindes Vertrauen auf Gott, trotz aller Stürme des Lebens? Schlafen können, obwohl die besten Freunde in Lebensgefahr sind? Nicht schreien und klagen, selbst wenn es ans eigene Leben geht wie bei Ijob? Ich bin da skeptisch.
Wenn wir die Fragen Ijobs, die oft auch unsere Fragen sind, und wenn wir die Angst der Jünger, die wir selbst auch kennen, wirklich ernst nehmen wollen, sollten wir uns vor vorschnellen Antworten und Tröstungen hüten. Was Gott uns Menschen manchmal zumutet, ist und bleibt ein Skandal!

1 Ernst Bloch: Atheismus im Christentum. Frankfurt a. M. 1968, 154.
2 Zitiert in: Klara Butting / Gerard Minaard (Hrsg.): Die Bibel erzählt … Hiob. Mit Beiträgen aus Judentum, Christentum, Islam, Literatur, Kunst. Wittingen 2003, 90 f. Ebenfalls lesenswert: Elie Wiesel: Adam oder das Geheimnis des Anfangs. Freiburg i. Br. 1980.