Wir beraten

Im Anfang verband Gott Himmel und Erde   

Peter Zürn zur Lesung am 13. Sonntag im Jahreskreis SKZ 25/2009

Alttestamentliche Lesung: Weish 1,13–15; 2,23–24
Evangelium: Mk 5,21–43

Die Leseordnung setzt uns wieder einmal ein Häppchen von einem Bibeltext vor. Dabei bilden die beiden Textfragmente aus dem Buch der Weisheit (1,13–15 und 2,23–24) nur die Ränder eines umfangreichen Gedichts, in dessen Zentrum die Denk- und Lebensweise von Menschen vorgestellt wird, die als Frevler bezeichnet werden. Eine Interpretation des gesamten Textzusammenhangs findet sich bei Thomas Staubli.1 Darauf sei hier verwiesen.

Mit Israel lesen

Ich möchte der Leseordnung folgen und in ihrer Verkürzung des Textes keine Verstümmelung, sondern eine Konzentration erkennen. Die konzentrierte Aufmerksamkeit auf kleinere Bestandteile des Textes, einen Abschnitt, einen Vers, ein Wort, einen Buchstaben – ist typisch und wesentlich für die jüdische Bibelauslegung. Dafür werden wir nachher ein Beispiel sehen. Ich folge der Leseordnung und werde durch ihre Kurzfassung auf einen Satz verwiesen, der die Mitte des Lesungstextes bildet. «Denn die Gerechtigkeit ist unsterblich» lautet er (1,15). Mit diesem Satz sind wir dem theologischen Zentrum des Weisheitsbuches sehr nahe gekommen. Es beginnt ja emphatisch mit dem Aufruf: «Liebt die Gerechtigkeit!» (1,1). Ja, es hat geradezu das «Werbeziel Gerechtigkeit».2
Im Zentrum des zentralen Verses des Lesungstextes steht das Wort «Gerechtigkeit», griechisch dikaiousynee. Das Buch der Weisheit entstand in der griechischsprachigen Metropole Alexandria in Ägypten. Es ist von jüdischen Menschen auf Griechisch geschrieben worden und sucht nach dem jüdischen Weg in einer nichtjüdischen Umwelt. Ein Weg, der sich der Sprache und Kultur der Umwelt nicht verschliesst, sondern sie aufnimmt und nutzt. Und gleichzeitig ein Weg, der diese Kultur kritisch an den eigenen Traditionen misst. Es ist der Versuch jüdischer Menschen, «in ihrer griechisch-hellenistischen Umgebung ein modernes Leben zu führen, ohne dabei ihren Glauben aufzugeben».3 Angesichts der überraschenden Aktualität, in der das Tun der Frevler in Weish 1 und 2 beschrieben wird, wäre es ein lohnendes Unternehmen, die Predigt an dieser Thematik auszurichten. Hier soll aber ein anderer Weg gegangen werden.
Hinter dem griechischen Begriff dikaiousynee steht der hebräische Wort zedakah.
Die Übersetzerinnen und Übersetzer der hebräischen Bibel ins Griechische (Septuaginta) verwendeten die Ausdrücke dikaiousynee/dikaios für die hebräischen Worte zedakah bzw. zedek/zaddik, weil sie ihnen sowohl inhaltlich als auch klanglich nahekommen. Auch der griechisch verfasste Text des Weisheitsbuches geht auf diese hebräischen Wurzeln zurück. Für den jüdischen Bibelübersetzer Martin Buber ist Zedek ein Ausdruck der Übereinstimmung und Zuverlässigkeit. Es «bedeutet die Zuverlässigkeit eines Handelns einem äusseren oder inneren Sachverhalt gegenüber; einem äusseren gegenüber, indem es ihn zur Geltung bringt, ihm Raum schafft, ihm sein Recht werden lässt; einem inneren, indem es ihn verwirklicht, ihn aus der Seele in die Welt setzt.»4 Buber schlägt vor, die hebräische Wurzel zdk mit Hilfe des deutschen Wortstammes «wahr» zu übersetzen: Bewahrheitung, Bewährung, bewährt. Es geht um Zuverlässigkeit bzw. Treue in Beziehung. Demnach steht also im Zentrum des Lesungstextes aus dem Buch der Weisheit der Satz: «Die Bewährtheit in Beziehung ist unsterblich.» Oder anders ausgedrückt. Das Leben gründet und besteht in bewährten, verbindlichen Beziehungen. Beziehung, Verbindung, Bund ist die Grundlage des Lebens. Deswegen ist der zentrale Vorwurf des Weisheitstextes in 1,16 eben der: «Die Frevler aber holen winkend und rufend den Tod herbei … sie schliessen einen Bund mit ihm.» Der Weisheitstext argumentiert dagegen schöpfungstheologisch: «Gott hat den Tod nicht gemacht … zum Dasein hat er alles geschaffen» (1,13). Hat diese Schöpfung etwas mit Verbindung und Beziehung zu tun? Elsa Klapheck, die später Rabbinerin wurde, lernte erst als Erwachsene Hebräisch. Sie erzählt von ihrer ersten Begegnung mit der hebräischen Bibel und der kreativen jüdischen Bibelauslegung, die nach Verbindungen zwischen Worten sucht. «Lange sprechen wir über die ersten drei Worte der Hebräischen Bibel: Bereschit bara Elohim … («Im Anfang schuf Gott …»). Rita bemerkt, dass das hebräische bara («schaffen») etymologisch mit dem Wort berit («Bund») zu tun haben könnte … Ich frage in die Runde hinein, ob dieses «Schaffen» oder «Schöpfen» nicht zugleich auch als ein Akt des «Verbindens» zu verstehen sei: «Im Anfang verband Gott Himmel und Erde.» Nicht dass die Elemente des Alls nicht schon da gewesen wären. Sie bekämen jedoch erst eine Existenz in der Zeit, wenn sie als miteinander verbunden, in ihrer Beziehung zueinander gesehen würden: Leben entsteht in Beziehungen.»5 Ob die Etymologie der Worte bara und brit wirklich stimmt, ist fraglich. Die Verbindung der Worte bara und brit ist aber die Nachahmung des freien und kreativen Schöpfungs-, also Verbindungsaktes Gottes. Und zu dieser Nachahmung sind wir berufen, ja dazu sind wir erschaffen. So der Lesungstext in Auslegung von Gen 1: «Gott hat den Menschen zum Bild seines eigenen Wesens gemacht» (Wsht 2,23).

Mit der Kirche lesen

Wenden wir die Methode der Konzentration auf ein Wort auch bei der Lektüre der langen Erzählung aus dem Markusevangelium (Mk) an, die von zwei Begegnungen Jesu mit Frauen erzählt. Auffällig ist das Zahlwort 12, das bei der Charakterisierung beider Frauen eine wichtige Rolle spielt. Die Tochter des Synagogenvorstehers Jairus ist 12 Jahre alt. Die Frau, die Jesu Gewand berührt, leidet seit 12 Jahren an Blutungen. Wenn von den 12 Jüngern die Rede ist, oder wenn beim Speisungswunder 12 volle Körbe erwähnt werden, wird das zurecht als Hinweis auf die 12 Stämme Israels, auf die Gesamtheit des Volkes Gottes, gedeutet. Warum sollte es hier anders sein? Gehen wir also davon aus, dass die beiden Frauen im Evangelium das Volk Israel verkörpern. Im Kontext des Mk, der die Katastrophe und das Trauma des Krieges gegen die Römer zu verarbeiten sucht,6 steht die blutflüssige Frau dann für Israel, das im Krieg auszubluten droht. Und die Tochter des Synagogenvorstehers verkörpert eben die Synagoge, d. h. das Volk Israel, der er vorsteht und für die er Verantwortung trägt.7 Mk erzählt von der Verbindung zwischen Jesus und dem Volk Israel über das Leid und das Blut des Krieges und über den Tod so vieler Kinder, Frauen und Männer in diesem Krieg hinaus. Markus erzählt von einer zweifachen Bewegung aufeinander zu: Die blutende Frau (Israel) geht auf Jesus, Jesus auf das 12-jährige Mädchen (auf Israel). Vermutlich ist das eher Ausdruck einer Hoffnung als Realität. Die Menschen um Jesus – und über sie die markinische Gemeinde – sollen diese Zuwendung fortsetzen und dem Mädchen, d. h. dem Volk Israel, zu essen geben. Wer Jesus nachfolgt, muss der Beziehung zu Israel gerecht werden, muss sich in dieser Beziehung bewähren. Die Beziehung zum Judentum darf nicht sterben. In ihr gründet das Leben der christlichen Gemeinde.

1 Thomas Staubli: Teufelspakt in: Ders.: Erinnerung stiftet Leben. Begleiter zu den Sonntagslesungen aus dem Ersten Testament. Luzern 2002, 176–179.
2 Helmut Engler: Das Buch der Weisheit. NSKAT Bd. 16. Stuttgart 1998, 28.
3 Silvia Schroer: Glücklich, wer Lust hat an der Weisung JHWHs. Illustrierte Kurzkommentare zur ersten Sonntagslesung. Freiburg / Schweiz 1998, 129.
4 Martin Buber: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift. Beilage zu: Die Schrift Bd. 1, Heidelberg 1976, 32.
5 Elsa Klapheck: So bin ich Rabbinerin geworden. Jüdische Herausforderungen hier und jetzt. Freiburg im Breisgau 2005, 11.
6 Vgl. Peter Zürn: Das Karsamstags-Evangelium in: SKZ 176 (2008), Nr 46, 760–763.
7 Vgl. Andreas Bedenbender: Markusevangelium III in: Texte und Kontexte 77/78 1+2/98, 33–40.