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Theologische Botanik   

Winfried Bader zur Lesung am 11. Sonntag im Jahreskreis SKZ 22-23/2009

Alttestamentliche Lesung: Ez 17,22–24
Evangelium: Mk 4,26–34

Über das Bild des Senfkorns, das im Zentrum des heutigen Evangeliums steht, ist botanisch schon viel diskutiert worden. Was ist es für eine Senfsorte, die «grösser als alle Gewächse» (Mk 4,32) oder gar zum «Baum wird» (Mt 13,32 // Lk 13,19)? Die Antworten sind so abentuerlich wie nichts sagend. Dabei hilft doch die Leseordnung des heutigen Sonntags weiter, die dieses Gleichnis der Evangelien neben das Gleichnis von Ezechiel stellt, von dem es literarisch abhängt. Taucht man ein in die Welt dieses Texts, entsteht eine neue Botanik, eine Botanik von theologischen Denkmustern und Vorstellungen.

Mit Israel lesen

Der Baum, der die Bildseite dieser Gleichnisse ist, ist als «Weltenbaum», «Lebensbaum» oder einfach auch «Heiliger Baum» in vielen Mythen belegt / z. B. im Alten Orient der sumerisch-babylonische Kiskanu-Baum oder die germanische Weltesche Yggdrasil). Der Baum ist generell ein Lebens- und Fruchtbarkeitssymbol, seine Blätter drücken durch Sterben und Sprossen den Lebenszyklus aus. Da er tief im Boden verwurzelt ist, sein Stamm sich in der Menschenwelt befindet und seine Äste in den Himmel ragen, ist er auch ein kosmisches Symbol der Verbindung zwischen Unterwelt, Erde und Himmel. Als Weltenbaum hält er den Kosmos zusammen. Der lebensspendende Baum wird im Alten Orient mit göttlichen Mächten, vor allem mit Göttinnen verbunden. Im 1. Jahrtausend erhält der Weltenbaum in der assyrischen Kunst eine andere Konnotation: Er wird zum Symbol für das Königtum oder den die Weltordnung garantierenden Grosskönig. Dieses Motiv wird von Propheten Israels aufgenommen. In Daniel 4 steht der Baum im Traum des Nebukadnezzars für ihn, den König selbst. In Ezechiel 31 ist die grosse Zeder ein Bild für den ägyptischen Pharao, und in Ezechiel 17 steht der Baum für die Könige Israels. Im Gleichnis 17,1–10 wird die politische Situation, die zum Exil führt, mit diesen Bildern erklärt. Der abgebrochene Wipfel der Zeder ist der abgesetzte und deportierte König Jojachin, der Weinstock der von Nebukadnezzar eingesetzte König Zidkija, der sich dem anderen Adler, Ägypten, entgegenstreckt und dafür von Nebukadnezzars endgültig ausgerissen wird.
Nach dem vernichtenden Gerichtsspruch in Ezechiel 17,21 setzt Vers 22, der Beginn unserer Lesung, neu an:
«YHWH, der mächtige Gott, sagt: ‹Ich selbst werde einen zarten Spross aus dem Wipfel der hohen Zeder brechen und ihn auf einem hoch ragenden Berg einpflanzen›» (Ez 17,22).
Dieses betonte «Ich selbst» zeigt, dass nun die Gegenthese zum vorangehenden Gericht kommt. Das Handeln YHWHs ist bis ins einzelne hinein das hohe Gegenspiel zum Handeln des Adlers. Mit dem Vokabular von Ez 17,3-4 wird in leichter Abwandlung der Einzelaussagen ausgeführt, dass YHWH vom Wipfel der Zeder und von seinen obersten Trieben ein zartes Reis nimmt. Anders als beim Adler erfährt dieses Reis aber nicht Erniedrigung, sondern Erhöhung, denn die Einpflanzung erfolgt auf dem «hohen Berg Israels» (Ez 17,23). In der theologischen Geographie des Landes ist dies der Zionsberg, die Stadt Davids. Die Aussage – und auch teilweise das Bild – ist somit die Gleiche wie in Jes 11,1: «Ein Spross wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais.» Es ist die Zusage auf die Fortführung der Königsdynastie Davids.
«Dort treibt er dann Zweige, er trägt Früchte und wird zur prächtigen Zeder.» (Ez 17,23) nimmt die Formulierungen aus 17,8 wieder auf. Macht es beim Weinstock Sinn, von einer erwarteten Frucht zu reden (Ez 17,8), ist es bei einer Zeder botanisch falsch, aber theologisch richtig. Der neue David wird stark sein wie eine Zeder und erfolgreich Frucht bringend wie ein Weinstock oder ein Lebensbaum.
Die Zeder wird – wie bei der Zeder in Ez 31 – zum Lebensraum von Vögeln (Ez 17,23). Vögel werden in der hebräischen Bibel oft dann genannt, wenn es um eine direkte Abhängigkeit von Gott im Guten (Ps 50,11; Dan 4,18) oder im Schlechten (Jer 12,4; Hos 7,12; Zef 1,3) geht. Die ähnliche Formulierung in Ps 104,16–17 zeigt, dass diese neue Zeder von Gott so gewollt und sie abhängig ist, wie seine ganze Schöpfung.
«Dann werden alle Bäume auf den Feldern erkennen, dass ich YHWH bin» (Ez 17,24) nimmt das Motiv der Völkerwallfahrt auf in der Sprache des verwendeten Bildes: Baume stehen stellvertretend für die Völker. Sie werden das Persongeheimnis JHWHs erkennen. Wie dieser Gott JHWH ist, den die Völker dann erkennen, wird abschliessend beschrieben:
«Ich mache den hohen Baum niedrig, den niedrigen mache ich hoch. Ich lasse den grünenden Baum verdorren, den verdorrten erblühen» (Ez 17,24).
Es ist diese Eigenschaft von Gott, das Kleine gross und das Grosse klein zu machen. Sie ist im Lobpreis der Hanna aufgenommen (1 Sam 2,7 – auch Ps 18,28; 75,6; 147,6) und von dort ins Magnificat gewandert (Lk 1,52). Diese Eigenschaft Gottes passt zur konkreten Situation des Exils. Hier braucht es diese Hoffnung, dass sich die Machtverhältnisse wieder kehren werden, hier braucht es die Hoffnung auf ein erblühendes und Frucht bringendes Davidsreich, die Hoffnung auf diesen messianischen Zustand. JHWH selbst mach diese Zusage, er selbst führt es aus. Überliess er den Untergang Jerusalems noch den Adlern (Nebukadnezzar), so macht die Wiederherstellung er selbst. Das ist Hoffnung des Volkes Israels bis heute.

Mit der Kirche lesen

Die Verwendung des Senfkorns als Bild im Gleichnis der Evangelien ist literarisch kreativ. In keinem anderen antiken Text wird es als Symbol oder Bild verwendet. Das Senfkorn setzt bei dieser Eigenschaft Gottes an, dass er aus Kleinem etwas Grosses machen kann. Botanisch stimmt die Aussage, es sei der Kleinste aller Samen, natürlich nicht. Es stimmt aber theologisch, denn Mischna und Talmudim kennen das Senfkorn als kleinste Mengeneinheit (mNas 1,5 u. a.) und eine Senfstaude habe einmal die Grösse eines Feigenbaums erreicht (jPea 7,20b,17–19).
Bleibt man bei der theologischen Botanik, die durch die Textbezüge gegeben ist, so ist das Reich Gottes, das durch das Gleichnis des Senfkorns beschrieben wird, nichts anderes als die von JHWH gewollte Wiederaufrichtung des davidischen Reiches, an dem dann die ganze Welt seine grossen Eigenschaften erkennen soll. Es führt dann den jüdischen Gedanken weiter.
Für die Evangelien ist dieser Bezug wichtig, denn ohne die vorgeformten Sprachmuster aus der hebräischen Bibel können sie ihre Botschaft nicht verkündigen. Wer aber die Differenz zwischen der grossartigen Zeder und der armseligen Senfstaude wahrnimmt, merkt, dass dieses neue Bild etwas Ironisch-Subversives hat, das Träume von imperialer Grösse in ein komisches Licht setzt. Gottesherrschaft ist so keine Gegen-Herrschaft zum bestehenden römischen Rech, sondern ein Blick in die Zukunft, die Hoffnung auf die nicht durch menschliches Handeln herbeiführbare, von Gott verheisse Verwandlung der Welt.