Wir beraten

JHWH ist der Gott oben und unten (vgl. Dtn 4,39)   

André Flury-Schölch zur Lesung am Dreifaltigkeitssonntag SKZ 22-23/2009

Alttestamentliche Lesung: Dtn 4,32–34.39–40
Evangelium: Mt 28,16–20

Seit dem Christusereignis sind die jüdische und die christliche Rede und Lehre von Gott verschiedene Wege gegangen: verstärkte Betonung der Einheit und Einzigkeit JHWHs («unitarischer» Monotheismus) sowie der Einheit JHWHs mit seinem Volk Israel jüdischerseits, Ausfaltung und begriffliche Bestimmung des trinitarischen Monotheismus christlicherseits. Beide Wege verstehen sich als monotheistische: Das NT selbst bekennt den Christusglauben nicht als Gegensatz zur Hebräischen Bibel, sondern als deren Fortführung bzw. Erfüllung (vgl. Mt 1,22; 2,6 u. ö.) – auch wenn die grosse Mehrheit des Judentums anderer Überzeugung war und ist.
Die schmerzhaften Brüche in der jü­disch-christlichen Beziehung sind jedoch nicht eine Konsequenz aus den verschiedenen Wegen an sich, sondern eine Folge von Kontroverstheologien, Denunziationen, Machtbestrebungen sowie von Judenverfolgungen und -vernichtungen im Laufe der Geschichte.
Angesichts dessen wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv am Aufbau einer neuen Beziehung gearbeitet, welche für die Gegenwart und Zukunft mit aller Kraft vertieft werden muss, damit die Beziehung geprägt ist von gegenseitiger Wertschätzung und von der Erkenntnis, dass in der Gottesrede die Gemeinsamkeiten grundlegend und die Differenzen legitim sind.
Eine Möglichkeit, den jüdisch-christlichen Dialog zu fördern, besteht m. E. darin, weniger die Unterschiede zu betonen, als vielmehr nach den Gemeinsamkeiten/Analogien in der Erfahrung der Wirkweise des einen Gottes zu fragen. Im Folgenden können dazu nur einige Andeutungen gemacht werden.1

Mit Israel lesen

Die Lesung lädt dazu ein, nach dem einen Gott zu fragen, der in Dtn 4 u. a. als (1) Schöpfer, als (2) barmherziger Befreier und als (3) bleibend gegenwärtig unter seinem Volk bezeugt wird.
(1) Gott, Schöpfer: Nach einigen Jahrhunderten Religionsgeschichte ist Israel vom monolatrischen zum monotheistischen Gottesbekenntnis gelangt, wie es etwa in Dtn 4,39 formuliert wird: «JHWH ist der Gott im Himmel droben und auf der Erde unten, keiner sonst» (vgl. Dtn 6,4 f. und dessen Aufnahme in Mk 12,29 f.; SKZ 176 [2008], Nr. 42, 679). Mit «im Himmel droben» wird auf die Transzendenz des Schöpfergottes hingewiesen; Gott ist unfassbares (Dtn 4,15–19) Gegenüber zu seiner Schöpfung: Das Staunen über die Schöpfung (Ps 104,24) weist über diese hinaus auf den Schöpfer und bindet zugleich den Menschen als Ebenbild Gottes in die Verantwortung für die Schöpfung mit ein (Gen 1,26 f.; 9,6; Ps 8). – JHWH ist jedoch nicht nur «im Himmel droben», sondern auch «auf Erden unten»: Der Schöpfer ist kein anderer, als der in der Geschichte Israels erfahrbare und handelnde JHWH.
(2) Gott, barmherziger Befreier: Die «Urhandlung» JHWHs in der Geschichte Israels ist die Befreiung aus dem «Sklavenhaus Ägyptens» (Dtn 5,6; 20,2), die geschichtlich konkret-einmalige, aber immer wieder aufs Neue nachzuvollziehende Befreiung aus jeder Art von Unterdrückung und Sklaverei. Aufrechterhalten wird die Freiheit, indem Israel Gottes Worte «aus dem Feuer im Donner» nicht vergisst (Dtn 4,33): das sind die am Horeb (bzw. Sinai) gegebenen «gerechten Ordnungen und Gebote» der Torah (4,8); sie zu halten, heisst den Bund zu halten (4,13).
Und wenn das Volk Gottes die Treue zu seinem Gott bricht? Wenn es die geschenkte Freiheit in neue Abhängigkeit, soziale Ungerechtigkeit und Sklaverei in Bezug auf sich und andere verkehrt? So haben die Schuldigen nach Dtn 4,26–28 die Konsequenzen zu tragen: Vertreibung, Tod, Exil. Doch mitten im schlimmsten Gottesgericht wird die Möglichkeit betont, dass Israel wieder umkehren kann (Dtn 4,29-30) und dass es von Gott gnädig empfangen wird: «Denn JHWH, dein Gott, ist ein barmherziger Gott: Er wird dich nicht verlassen und nicht verderben, und er wird den Bund mit deinen Vorfahren nicht vergessen, den er ihnen geschworen hat» (Dtn 4,31).
(3) Gottes Gegenwart: Die Bilder und Erfahrungen der wirkmächtigen Gegenwart Gottes im AT sind vielfältig: Analog altorientalischer Vorstellungen ist JHWH im Zionskönig (Ps 2; 72) und im Jerusalemer Tempel (1 Kön 6–7; Ps 27,4 f.; Ez 8–11; 40–22) gegenwärtig. Aber Gott wirkt und erscheint u. a. auch im/als Engel JHWHs (Gen 16,7–11; 22,11–15; Ex 3,2), in der Wolken- und Feuersäule (Ex 13,21 f.), in der Weisheit (Spr 8–9; Hi 28), im Geist Gottes (Ps 104,30; Jes 11,2; 32,15; Ez 37,1–14; Joel 3), im prophetischen Wort (Jes 55,11; Jer 23,29), und – vom gesamten Dtn betont – in der Gabe der Torah sowie in deren Befolgung durch Israel (Ps 1; 19; 119). Die Vielzahl der Beschreibungen der Gegenwart Gottes verweist auf die Unvergänglichkeit der Beziehung Gottes zu Israel – woran die jüdische Tradition mit gutem Recht festhält: Wie unauflöslich die Verbundenheit JHWHs mit seinem Volk ist, kann beispielsweise die rabbinische Theologie dadurch zum Ausdruck bringen, dass die Schekinah (die Einwohnung Gottes) mit Israel selbst in die Verbannung zieht: «An jeden Ort, an den Israel in die Verbannung zog, zog die Schekinah mit ihnen in die Verbannung» (pTaan 1,1); wenn Israel geknechtet wird, wird auch die Schekinah geknechtet und wenn Israel aus dem Exil zurückkehrt, kehrt die Schekinah aus dem Exil zurück (Mekh bo 14,51).

Mit der Kirche lesen

Die konkrete Begegnung mit Jesus von Nazareth, die Erfahrung seines Todes sowie seiner Auferstehung haben zum Glauben der Jüngerinnen und Jünger geführt, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist. Dieser Glaube wird u. a. durch die Übertragung atl. Theolegumena auf Jesus zum Ausdruck gebracht, wie es auch der Schluss des Matthäusevangeliums erkennen lässt:
(1) Schöpfung: In Mt 28,18 erinnert der Auferstandene die anbetenden und zweifelnden Jünger an den Osterglauben: Jesus ist durch seine Auferstehung erhöht und zum Weltenherrn eingesetzt worden, dem «alle Macht im Himmel und auf der Erde» gegeben ist (vgl. Mt 26,64; Röm 1,4; Phil 2,9–11 u. ö.). Von hier aus ist es nicht mehr weit zum Bekenntnis, dass in ihm/durch das Wort alles geschaffen wurde (Kol 1,12; Joh 1,3).
(2) Befreiung/Erlösung: Dass dem Auferstandenen nun «alle Macht» gegeben ist, erinnert an Jesu Lehre «in Macht» (Mt 7,29) sowie an die «Macht, Sünden zu vergeben», die Gott Jesus und durch ihn der christlichen Gemeinde gegeben hat (Mt 9,6.8). Indem in Mt 28 der Auferstandene spricht und indem die Taufe auf den Tod und die Auferstehung Jesu hin vollzogen wird (vgl. Röm 6,4; Kol 2,12), bringt das Evangelium den Glauben zum Ausdruck, dass in Christus auch die letzte Sklaverei, die Sklaverei des Todes, überwunden ist (vgl. Röm 8,21).
(3) Gottes bleibende Gegenwart: Nach Mt 28,20 ist es Jesus selbst, der im Befolgen seiner Worte gegenwärtig bleibt (vgl. Mt 18,20). Nach Johannes (vgl. Joh 16) und nach dem lukanischen Doppelwerk (vgl. Apg 1,8; 2) ist es der Heilige Geist, der an Jesu Stelle die Gemeinde Christi mit der Gegenwart des einen Gottes erfüllt.

1 Weiterführend u. a. Clemens Thoma: Das Messiasprojekt. Theologie Jüdisch-christlicher Begegnung. Augsburg 1994; Carl S. Ehrlich: Bibel und Judentum. Beiträge aus dem christlich-jüdischen Gespräch. Zürich 2004.