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Wie dem Geier   

Martin Brüske zum Antwortpsalm (Ps 103) am 7. Sonntag der Osterzeit SKZ 20/2009

Der Gott der Neuanfänge in Ps 103

Geier gelten in unserer Kultur nicht eben als besonders sympathische Tiere. In Israel waren sie jedenfalls bildfähig für Gottes Handeln am Menschen: Der Geier mit gefülltem Magen wankt und schwankt über den Boden, müde und matt wirkt sein Gang. Aber dann lässt er sich über den Rand des Abgrunds in die Thermik gleiten, die sich in der Schlucht unter ihm gebildet hat, er breitet seine Flügel aus – und majestätisch wird er nach oben getragen: «Wie dem Geier macht er die Jugend dir neu» sagt der Beter in V5 unseres Psalms. Denn der Adler, der üblicherweise in unseren Übersetzungen antreffbar ist, ist vermutlich eben ein Geier und unser Vers hat den gerade geschilderten Vorgang vor Augen.

Das ist eigentlich ein österliches Bild. Schade, dass dieser Vers nicht in die Auswahl aus Ps 103 für den Antwortpsalm des siebten Sonntags der Osterzeit aufgenommen worden ist. Er hätte den Psalm noch stärker zu einer kleinen Summe der auf ihr Ende zugehenden Pentekoste gemacht. Dazu wäre er wirklich besonders gut geeignet, denn er ist innerhalb des Psalters so etwas wie das Hohelied der Barmherzigkeit Gottes. Der unmittelbare Zusammenhang seiner Wahl für diesen Sonntag liegt wohl in V19: Die Errichtung des Gottesthrones im Himmel lässt sich christologisch als Reflex auf Christi Himmelfahrt lesen. Das ist schön und richtig: In der Aufrichtung der Gottesherrschaft in dem zur Rechten Gottes thronenden Christus wird eine Tiefendimension der Theologie von Auffahrt deutlich. Die Botschaft unseres Psalms aber lautet: Diese Herrschaft ist die Herrschaft der unüberwindlichen Barmherzigkeit Gottes. Insgesamt wirkt die Versauswahl für den Antwortpsalm wie eine Kurzfassung des ganzen Psalms: Sie stellt drei Verspaare aus Aufgesang, Hauptteil und Abgesang durchaus treffend zusammen. Allerdings wird man diese Kurzfassung nur recht verstehen können, wenn man sich den Zusammenhang des ganzen Psalms klar macht.

Der Psalm durchläuft einen kreisförmig sich schliessenden Bogen:1 Er beginnt und endet mit der Selbstaufforderung, JHWH zu loben. Wenn der Bogen am Ende durchlaufen und der Psalm zu seinem Anfang zurückgekehrt ist, dann ist entfaltet worden, was in dieser Aufforderung zum Lob JHWHs alles enthalten war. Denn der Gott, der hier gelobt werden soll, hat sich in der Gabe seines Namens nicht nur identifizier- und ansprechbar, er hat in der Namensgabe sich selbst und sein Wesen präsent gemacht und hat in Entsprechung zu dieser Präsenz gehandelt und sie so als wahr und tragfähig erwiesen – am einzelnen Beter und an Israel. Um diese Auslegung des Gottesnamens, die der Gott Israels nicht nur selbst vorgenommen hat, sondern die er im Selbsterweis seines Handelns eingelöst hat, kreist unser Psalm.

Es ist deshalb gewiss kein Zufall, wenn schon die zweite Hälfte von V1 die Aufforderung zum Lob JHWHs mit dem Lob seines heiligen Namens umschreibt. Denn das theologische Zentrum des Psalms in V8 bildet die direkte Bezugnahme auf eine der zentralen Stellen im Buch Exodus in der Gott selbst seinen Namen JHWH auslegt. In Ex 34, 5 f. heisst es nämlich: «Der Herr aber stieg in der Wolke herab und stellte sich dort neben ihn hin. Er rief den Namen Jahwe aus. Der Herr ging an ihm vorüber und rief: Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue.» Der ganze Psalm eignet sich diese Stelle in Form einer poetischen Gebetstheologie an.

Darüber hinaus ist es aber nicht nur diese Stelle, sondern der ganze Zusammenhang der Erzählung vom goldenen Kalb in Ex 32–34, der hier aufgerufen wird. Denn unmittelbar vorher heisst es im V7 des Psalms, JHWH habe Mose seine Wege kundgetan – wiederum eine direkte Bezugnahme auf Ex 33,13, wo Moses genau darum bittet.

Die Erzählung vom goldenen Kalb wird, gemäss der Auslegung des Gottesnamens die Ex 32,6 vornimmt, zum Modell für die Barmherzigkeit Gottes, ja unser Psalm öffnet die Polarität von Barmherzigkeit und Strafe in Ex 34,7 auf die je grössere Barmherzigkeit Gottes. Dies ist die eigentliche theologische Spitzenaussage dieses Psalms: Gottes Barmherzigkeit ist unendlich viel grösser als die Wirklichkeit der Sünde, die in der Unordnung, letztlich in der Todverfallenheit, die sie in der Abwendung von Gott als Quell des wahren Lebens schafft, als Zorn erfahren wird. Letzteres wird nicht negiert – dies wäre eine Verharmlosung, die heillos ist – sondern grundsätzlich begrenzt: Gottes Barmherzigkeit ist grösser als jede mögliche Abwendung von ihm. Sie erfüllt den Raum zwischen Himmel und Erde (V11), schafft die Schuld unendlich weit weg (V12) und liebt wie ein Vater (V13; vgl. Lk 15, 11–32). Sie ist die letzte Sinnbestimmung seiner königlichen Herrschaft (vgl. V19 als Zielaussage des Psalms). Darin entspricht sie genau der Basileiabotschaft Jesu. (Gottfried Vanoni hat vor Jahren die verblüffende Motivnähe unseres Psalms zum Vaterunser herausgearbeitet.)

Dabei durchläuft unser Psalm – wie angedeutet – einen ungeheuren Bogen. Er beginnt bei der Selbstaufforderung eines einzelnen Beters, JHWH zu preisen, durchläuft im hebräischen Text dabei eine Reihe hymnischer Partizipien (deutsch Relativsätze VV3–5a), die das Handeln Gottes am Beter schildern, gipfelnd in dem eingangs beschriebenen Geierbild (VV1–5). Eine erste Stufe der Universalisierung stellt diese Erfahrung in den Zusammenhang des Handelns Gottes an Israel und beleuchtet es von dort aus, dieser Teil geht über in einen anthropologischen Teil, der die Endlichkeit, Schwäche und Zerbrechlichkeit des Menschen der unbegrenzten Barmherzigkeit Gottes gegenüberstellt. Schliesslich weitet sich in der Aussage über Gottes universale Herrschaft (V19) und der Aufforderung zum Lobpreis an den himmlischen Hofstaat, ja an die ganze Schöpfung (V20–22) der Blick in kosmische Weite. Die Klammer, mit der erneuten Selbstaufforderung, nimmt diesen ganzen Bogen in sich auf. Er war in der anfänglichen Aufforderung «impliziert».

Damit sind wir zum Anfang zurückgekehrt. Gottes Barmherzigkeit geht dem Sünder nach – bis in die Todverfallenheit seiner Gottvergessenheit (vgl. V2b). Gottes Gnade wird wirksam, wo sie die Gottvergessenheit durchbricht, wo sich der Heilsraum des Gottgedenkens im Lobpreis neu auftut, wo im Anruf des Namens Gottes sein barmherziges Handeln identifiziert wird. Hier kann Gottesfurcht, Bundes- und Toratreue wachsen als Ort der Barmherzigkeit (vgl. VV 11, 13 und 18). Der Lobpreis selbst ist der Raum in dem Gottes Barmherzigkeit heilsam wirksam wird: «Allein der Lobende vergisst nicht. (…) Das Geheimnis des Gotteslobes ist die Kraft der Verbindung mit Gott, die ihm innewohnt» (Claus Westermann).

Schon die VV1–5 durchlaufen auf der Ebene des Individuums einen ähnlich grossen Bogen, wie der gesamte Psalm und nehmen ihn so vorweg: verzeihen, heilen, «aus der Grube (= Scheol, Unterwelt) erkaufen» (so V3a wörtlich), krönen, erneuern. Er läuft aus der Tiefe des schon erfahrenen Todes zum Aufschwung des Geiers: Gottes immer grössere Barmherzigkeit ermöglicht den österlichen Neuanfang – jeden Tag.


1 Probleme möglicher redaktioneller Erweiterungen lassen wir hier beiseite; wir nehmen den Psalm in seiner, jedenfalls hochpoetischen, kanonischen Endgestalt.