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«Singet dem Herrn ein neues Lied»   

Josef-Anton Willa zum Antwortpsalm (98, 1.2–3b.3c–4) am 6. Sonntag der Osterzeit SKZ 19/2009

Was neu ist, gilt als gut und wertvoll. Ob es in jedem Fall besser ist als das Ältere, steht auf einem anderen Blatt. Neues muss das Alte nicht zwangsläufig ersetzen, macht es nicht unbedingt hinfällig und ungültig, wie uns die Werbung oft weismachen will. Man kann das Neue auch als Weiterführung, Er-neu-erung, Aktualisierung und Verlebendigung des Bisherigen verstehen. Das gilt wohl auch für das «neue Lied», in das einzustimmen die Bibel uns immer wieder einlädt, etwa in Psalm 98.

Symphonie zum Lob Gottes

Anlässlich eines festlichen Gottesdienstes im Jerusalemer Tempel wird das Volk Israel und mit ihm alle Völker der Erde, ja die ganze Schöpfung (Meer, Ströme, Berge) aufgerufen, sich am Lobpreis auf Gott zu beteiligen, mit allen zur Verfügung stehenden klanglichen Mitteln, angefangen mit Singen (V. 1), über Jauchzen, Jubeln und instrumentalem Musizieren (V. 4–6) bis hin zu Brausen und Klatschen (V. 7–8). Denn die ganze Erde soll auf die Wundertaten des Gottes Israels, des Königs aller Völker, aufmerksam werden und auf ihn warten, der kommt, endgültig eine gerechte Weltordnung aufzurichten.
Psalm 98 zählt zu den JHWH-Königs-Psalmen und ist formal und inhaltlich eng mit den Psalmen 96 und 97 verwandt. Der «imperativische Hymnus» (Erich Zenger) lässt sich in drei Abschnitte gliedern: Die Verse 1–3 wenden sich an das «Haus Israel», Verse 4–6 an die «Länder der Erde», Verse 7–9 schliesslich beziehen den ganzen vom göttlichen Richtspruch betroffenen «Erdkreis» in die grosse Symphonie mit ein. Dabei haben die verschiedenen Akteure ihren je eigenen Part: Israel bringt das Gotteslob ins Wort, kümmert sich also um den Inhalt der Verkündigung, die Völker steuern die wortlose Musik bei und die übrige Schöpfung den «Sound» und den Rhythmus. Da sage noch jemand, im Gottesdienst dürfe es nicht auch mal laut und rhythmisch zu und her gehen!
In der Messe vom 6. Ostersonntag B werden nach der ersten Lesung von Psalm 98 nur die Verse 1–4 gesungen, auf die sich die folgenden Ausführungen weitgehend beschränken.

Der neue Exodus

Wie Psalm 96 hebt unser Psalm mit dem Aufruf zum neuen Lied an (vgl. auch Psalm 33,3). Dafür gibt es einen konkreten Grund: die Befreiung aus der Babylonischen Gefangenschaft. Sie wird als neuer Exodus gedeutet. Wie beim Auszug aus Ägypten (Ex 15,1–18) soll das Volk auch jetzt wieder ein Lied anstimmen. Nach der Rückkehr des Volkes aus dem Exil entstanden, nimmt der Psalm auf die neue Befreiungstat Gottes Bezug. Was der Exilprophet angekündigt hat (Jes 40 ff., das neue Lied: 42,10), ist in Erfüllung gegangen. Vers 3cd zitiert wörtlich Jes 52,10, mit dem Unterschied, dass das Verb in der Vergangenheitsform steht. Auch Sprachbilder wie «heiliger Arm» und «vor den Augen der Völker» knüpfen an Deuterojesaja an (Jes 52,10).
Der Psalm ist also selber ein neues Lied der nachexilischen gottesdienstlichen Gemeinde nach dem Vorbild des Schilfmeerliedes. Neu ist auch, dass das Heil nicht dem Volk Israel vorbehalten ist, sondern der ganzen Erde zuteil wird (die Begriff Erde bzw. Erdkreis kommen im ganzen Psalm fünfmal vor).

Das neue Lied in Christus

Nach christlicher Lesart ist das PaschaMysterium Christi der eigentliche neue Exodus, vor dessen Hintergrund die Christen ihr neues Lied anstimmen. Der Kirchenvater Hieronymus bezeichnet in seiner Psalmauslegung das Erlösungsgeschehen am Kreuz und die Menschwerdung (in dieser Reihenfolge!) als die «wunderbaren Taten» Gottes. Psalm 98 hat entsprechend im Oster- wie im Weihnachtsfestkreis einen liturgischen Ort (in der Messe: 8. Dezember; Weihnachten – am Tag; 6. Ostersonntag B).
In Christus erneuert Gott seinen Bund und weitet ihn aus auf alles, was er erschaffen hat. Der neue Bund verlangt nach einem neuen Lied, er macht den alten Bund aber nicht zunichte, sondern führt ihn weiter und erfüllt dessen Verheissungen. Gott hält «seine Treue zum Hause Israel» (V. 3) aufrecht. Darum gedenkt die Christengemeinde auch des alten Bundes und singt (in der Osternacht) das Lied des ersten Exodus als Vorbild für das neue Lied in Christus.
Die irdische Liturgie nimmt die himmlische Gemeinschaft der Erlösten vorweg, die vor dem Thron Gottes das neue Lied singt (Offb 14,3), das «Lied des Mose» und das «Lied zu Ehren des Lammes» (Offb 15,3).

Heil für alle Völker

Die «Rechte» und der «heilige Arm» (V. 1) sind Bilder für die schöpferische und befreiende Macht Gottes (vgl. die «Rechte des Herrn» in Psalm 118, 15–16). Weil die Menschen immer wieder vergessen, dass Gott seit Beginn der Schöpfung der «Ich-bin-da» (Ex 3,14) ist, der mit ihnen geht und an ihnen handelt, dass er ihnen den Atem und die Freiheit zum Leben gibt, darum hat er ihnen immer wieder «sein Heil bekannt gemacht», durch «sein gerechtes Wirken» am Volk Israel und zuletzt durch Jesus Christus «vor den Augen der Völker» (V. 2). Das Heil, das Israel schon erfahren hat, ist für alle Länder der Erde bestimmt; die nachexilische Gemeinde singt davon bereits in ihrem neuen Lied. Die Radikalität der Erlösungstat Christi sprengt aber die Grenzen endgültig. Christus ist von Ewigkeit her die Rechte Gottes, sein heiliger Arm. Sein Heil schliesst niemanden aus, es reicht bis an die «Enden der Erde»
(V. 3). Von Gott her ist dies nicht neu. Die Menschen aber, die häufig ihre Identität in Abgrenzungen suchen, müssen es sich stets neu bewusst machen. Auch die zum Glauben an Christus gekommenen Juden in Cäsarea können nicht recht fassen, dass auch die Heiden den Heiligen Geist empfangen können (Apg 10,45; 1. Lesung).

Singen mit Begeisterung

Die Aufforderung, ein neues Lied anzustimmen, hat die Musiker aller Zeiten zu Neukompositionen inspiriert. Psalm 98 hat eine lange kirchenmusikalische Geschichte, die beim gregorianischen Introitus «Cantate Domino canticum novum» beginnt und über Werke von Claudio Monteverdi, Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy und Vytautas Miškinis (*1954) (um nur ein paar wenige Komponisten zu nennen) bis hin zu einem Neuen Geistlichen Lied von Rolf Schweizer (KG 538) reicht. Im Kirchengesangbuch finden wir ausserdem das bekannte Psalmlied: Nun singt ein neues Lied dem Herren (522), eine Gemeindepsalmodie (363,1), einen Kanon (241) sowie Kehrverse, die Motive aus Psalm 98 aufnehmen (363; 367).
Niemand würde auf den Gedanken kommen, jeweils nur die allerneueste Version dieser Psalmvertonungen für den Gottesdienst zuzulassen. Das Lied kann uralt sein, wenn es nur wie neu gesungen wird, nicht gedankenlos und routinemässig, sondern mit der Begeisterung der ersten Stunde, als ein topaktuelles Lied, das die Gläubigen (und die Welt) genau jetzt und hier etwas angeht. Letztlich hat das «neue Lied» seinen Grund darin, dass Gott durch Christus in jedem Augenblick das Leben neu schafft und am Ende der Zeiten alles neu macht (Offb 21,5). An uns ist es, Tag für Tag das unerwartet Neue und Aktuelle der österlichen Botschaft zu entdecken und es in eine lebenshungrige Welt hineinzurufen (vgl. Eröffnungsvers).