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Lobpreis inmitten der Gemeinde   

Gunda Brüske zum Antwortpsalm (Ps 22) am 5. Sonntag der Osterzeit SKZ 17-18/2009

Einheit von Klage und Danklied

Psalm 22 gehört zu den Prominenten unter den Psalmen, da die Sterbeworte Jesu (Mk 15,34) Vers 2 zitieren. Der erste Teil des Psalms, das Klagelied eines Einzelnen (Ps 22,2–22) hat seinen liturgischen Ort dementsprechend in der Karwoche: als Antwortpsalm am Palmsonntag (auch zur Auswahl für die Wochentage) sowie in der Lesehore am Karfreitag. In beiden Fällen wird nicht nur der Klage Ausdruck verliehen, sondern der Überschritt zum Lob mit Vers 23 vollzogen: «Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde dich preisen.» Die Wendung vom Tod zum Leben, die diesen Psalm kennzeichnet, ist damit auch in die Liturgie der Kartage eingezeichnet.
Aus dem zweiten Teil des Psalms, dem Danklied des Geretteten (Ps 22,23–32), ist der Antwortpsalm für den 5. Sonntag der Osterzeit gewählt. Hier fehlen jedoch die Verse 23–25 und 29. Die Aufteilung der beiden Teile des Psalms auf Karwoche und Osterzeit entspricht nicht exakt der Zweiteilung des Psalms – mit gutem Grund, insofern auch in den Kartagen immer das Ganze der Erlösung, Christi Überschritt vom Tod zum Leben im Blick ist, mit gewissen Schwierigkeiten jedoch für das Verständnis der wenigen Verse beim Antwortpsalm für den 5. Ostersonntag. Deshalb ist zunächst der ganze zweite Teil des Psalms einschliesslich der Rückbezüge zum ersten Teil zu betrachten. Daraus ergeben sich Hinweise, wie die ausgewählten Verse als Antwort auf die vorhergehende Lesung gehört werden können.

Von Generation zu Generation

Das Danklied des Geretteten gliedert sich in Lobgelübde (23), Aufruf zum Lobpreis durch Israel in Folge der Errettung des Beters aus dem Tod (24–25), Gelübdeerfüllung in Lobpreis und Mahlfeier (26–27), Erwartung der Bekehrung der ganzen Welt aufgrund der Königsherrschaft Gottes (29) und des Lobpreises der Lebenden, der Toten und der künftigen Geschlechter (28–32). Der Psalm schliesst also mit einer universalen Perspektive und greift weit in die Zukunft voraus. Am Beginn des Psalms hatte der Beter Gott an die früheren Geschlechter, die Väter Israels erinnert: «Dir haben unsere Väter vertraut … und du hast sie gerettet» (5). Zu Beginn des Dankliedes im zweiten Teil wendet sich das Ich des Psalms an die Zeitgenossen: «Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde dich preisen. … Ihr alle vom Stamm Jakobs rühmt ihn …» (23–24). Das Ich aus Psalm 22 stellt sich in eine Kette des Gottvertrauens und des Gotteslobs, die von den Vätern bis zum Volk reicht, das erst noch geboren wird, indem es die göttliche Rettungstat hier und jetzt in der Gemeinde erzählt. Diese Aufeinanderfolge der Generation zeigt, dass das Lobgelübde «mit seinem Akzent auf dem Bekenntnis ein Ausgangspunkt für eine lebendige Überlieferung des Glaubens ist. Der inmitten der Gemeinde dankende Zeuge wird zum notwendigen Glied in der Kette der Tradition: Mit seinem Bekenntnis bestätigt und verlebendigt er die Überlieferung der Alten und gibt durch die neue Erfahrung den Impuls für die Weitergabe an die zukünftigen Geschlechter» (H. Tita).

Lebendige Überlieferung

Die lebendige Überlieferung ist ein erster Punkt, an dem sich biblische und liturgische Lesart des Psalms kreuzen. Durch den Kehrvers des Antwortpsalms – «Deine Treue, Herr, preise ich in grosser Gemeinde» (26a) – erfolgt eine Rückbindung an die vorhergehende Lesung von Apg 9,26–31: Saulus erzählt in Jerusalem den Aposteln von seiner Christusbegegnung und dem öffentlichen Auftreten im Namen Jesu in Damaskus. Auch in Jerusalem tritt er in seinem Namen auf und führt Streitgespräche. Mit anderen Worten: Paulus stellt sich in die Kette der Zeugen und er gibt durch seine eigene Christuserfahrung einen Impuls für die Weitergabe des Glaubens. Der Antwortpsalm wäre also, wenn man ihn so verstehen darf, nicht christologisch zu lesen, sondern ekklesiologisch im Sinne einer Weitergabe von Glaubenserfahrung. Man hätte sich dann allerdings gewünscht, dass der Antwortpsalm mit Vers 23 beginnt.

Universale Perspektive

Der zweite Kreuzungspunkt zwischen biblischer und liturgischer Lesart des Psalms liegt in der universalen Perspektive der Glaubensüberlieferung in Psalm 22,28–32 und der universalen Ausrichtung der paulinischen Mission. Die christliche Glaubensverkündigung geht der Apostelgeschichte zufolge von Jerusalem aus. In der Lesung des 5. Ostersonntags wird berichtet, dass Paulus nach seinem Aufenthalt in Jerusalem nach Caesarea gebracht wird und von dort nach Tarsus (Apg 9,30). Dort sucht Barnabas ihn auf und nimmt ihn mit nach Antiochia (Apg 11,25), wo die Mission unter den Völkern ihren Ausgang nimmt (vgl. Apg 13). Oder mit den Worten des Psalms: «Alle Ende der Erde … werden umkehren zum Herrn. Vom Herrn wird man dem zukünftigen Geschlecht erzählen.» Die christliche Relectüre des Psalms würde wiederum ekklesiologisch und nicht christologisch laufen. Das mag überraschen angesichts der starken Verwurzelung von Psalm 22 in den Passionsberichten.

Errettung aus dem Tod und Königtum Gottes

Im Hinblick auf die universale Perspektive ist noch einmal das Entfallen eines Verses zu bedauern: «Denn JHWH gehört das Königtum, und er herrscht über die Völker» (Ps 22,29, Übersetzung von B. Janowski). Die Begründung für die universale Perspektive der Glaubensweitergabe liegt bereits im hebräischen Psalm im Königtum JHWHs. In der Errettung eines Einzelnen aus dem Tod, wie sie in Psalm 22 besungen wird, offenbart sich das Kommen der Königsherrschaft Gottes (so H. Gese und ihm folgend weitere Exegeten). Am Beginn der Apostelgeschichte heisst es: «Ihnen [den Aposteln] hat er [Jesus] nach seinem Leiden durch viele Beweise gezeigt, dass er lebt; vierzig Tage hindurch ist er ihnen erschienen und hat vom Reich Gottes gesprochen» (Apg 1,3). Derjenige, den Gott vom Tod in das Leben der Auferstehung errettet hat, erzählt weiterhin von der Königsherrschaft Gottes. Die Errettung Jesu aus dem Tod ist wie bereits die Errettung des Beters in Psalm 22 ein Stück apokalyptischer Theologie: Offenbarung der eschatologischen Königsherrschaft Gottes. In diese Linie stellt sich auch Paulus, wenn er den Gekreuzigten als Auferstandenen unter den Völkern verkündigt. Hier zeigt sich das christologische Fundament für eine ekklesiologische Relectüre des zweiten Teils von Psalm 22. Der zweite Teil des Psalms, das Danklied des Erretteten, ist mit Hinzuziehen von Vers 29 als Antwortpsalm für die Osterzeit sehr passend – auch unabhängig von der vorhergehenden Lesung.
Für das Verständnis des Antwortpsalms ergeben sich wenigstens drei Zugänge: 1. die lebendige Glaubensüberlieferung, die zuerst der Sprecher des Psalms übt, dann Saulus/Paulus, jetzt aber die Gemeinde, die Verse aus dem Danklied re-zitiert; 2. die Ausweitung der Glaubensüberlieferung auf alle Völker im Psalm, in der Heidenmission des Apostels Paulus, der Kirche in allen Ländern der Erde; 3. die Offenbarung der Königsherrschaft Gottes in der Errettung aus dem Tod sowohl im Psalm wie im Christusereignis. Die Deutungsansätze zeigen den Reichtum, der durch die Verschränkung von biblischer und liturgischer Lesart des Psalms entsteht.