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Gott schafft Lebensraum   

P. Gregor Brazerol OSB zum Antwortpsalm (Psalm 4) am 3. Sonntag der Osterzeit SKZ 15-16/2009

Wer regelmässig die Tagzeiten betet, dem wird Psalm 4 aus der Samstagskomplet vertraut sein. Vers 9 spricht vom Schlafengehen: «In Frieden leg ich mich nieder und schlafe ein; denn du allein, Herr, lässt mich sorglos ruhen.» Die Worte drücken ein Gottvertrauen aus, welches sich auf den Beter und die Beterin übertragen und Ausdruck seiner inneren und äusseren Ruhe in Gott werden soll.
Am dritten Sonntag der Osterzeit wird Psalm 4 als Antwortpsalm nach der Lesung aus der Apostelgeschichte verwendet (vgl. Apg 3,12a.13–15.17–19). Dort geht es keineswegs um die nächtliche Ruhe, sondern Petrus deutet in seiner Predigt das Christusgeschehen. Jesus, der Knecht Gottes und Urheber des Lebens, wurde verraten, verleugnet und getötet. Aber der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs hat ihn von den Toten auferweckt und verherrlicht. «Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten im Voraus verkündet hat» (Apg 3,18).
Psalm 4 wird von der österlichen Liturgie in einen christologischen Zusammenhang hineingestellt. Dieser neue Kontext wirkt zurück auf das Verständnis des ganzen Psalms. Denn was der Psalm beschreibt, ist die Ostererfahrung Christi, der gelitten hat und vom Todesschlaf auferweckt wurde. Entsprechend bringt der sogenannte «Psalmtitel», der im Stundenbuch Psalm 4 als «christologische Lesebrille» vorangestellt ist, ein Augustinuszitat: «Wunderbar hat der Herr an ihm gehandelt, den er von den Toten auferweckte.» Psalm 4 wird im Zusammenhang mit der Petruspredigt als ein solches Prophetenwort gedeutet, welches Gott «erfüllt» hat.
Hier liegt ein Missverständnis nahe. Man kann einen alttestamentlichen Text nicht wortweise oder Satz für Satz hernehmen und ein «Drehbuch» daraus machen, nach dem das Leben des Messias Jesus ablaufen musste. Das Gesetz des Mose, die Propheten und die Psalmen (vgl. in der Evangelienperikope besonders Lk 24,44) sprechen zuerst einmal darüber, wie Gott in der Geschichte Israels wirkt und handelt. Sie erzählen Rettungserfahrungen, angefangen von der Befreiung aus Ägypten, über die Erlösung aus dem babylonischen Exil bis hin zur Erfahrung des vierten Psalms, dass Gott in der Angst Raum geschaffen und wunderbar gehandelt hat. Die Schrift spricht vom rettenden Handeln Gottes an seinem Volk – genau dieses rettende Handeln Gottes hat Jesus in Kreuz und Auferweckung erfahren. Auf ihn trifft zu und in ihm geschieht, wovon die Schrift spricht. Insofern «erfüllt» sich in Christus die Schrift.
Wir müssen die Erfahrungen und Aussagen des Alten Testamentes nicht als vorläufig oder schattenhaft abwerten, um «das Eigentliche» bei Jesus erfüllt zu sehen. Vielmehr behauptet Lukas in seinem Evangelium und in der Apostelgeschichte ja, dass der Gott der Väter all das, was er bisher an seinem Volk Israel getan hatte, nun auf Jesus konzentriert vollbrachte. Er knüpft damit den christlichen Glauben eng an den Glauben Israels an und zeigt, dass der Gott der Väter derselbe ist wie der Vater Jesu. Darum behalten die biblischen Schriften ihre prophetische Kraft, denn Gott will auch in Zukunft so handeln, wie er an seinem Volk und an Jesus gehandelt hat. Gott will sein Wort auch an uns erfüllen und Wirklichkeit werden lassen.

Gott stellt die Gerechtigkeit wieder her
So gesehen, spricht auch Psalm 4 vom Leiden und Auferstehen. Er beginnt als Bittgebet: «Wenn ich rufe, erhöre mich … sei mir gnädig, und hör auf mein Flehen!» (Ps 4,2). Die Not des Beters wird nicht näher umschrieben, sie wird als Zeit der Angst charakterisiert. Darum ist der Text offen für die Todesangst Jesu (vgl. Lk 22,24) und für die Ängste und Sorgen der heutigen Beterinnen und Beter. Auch wenn die Not nicht deutlich wird, so ist der Adressat der Gebetsrufe eindeutig: «Gott, du mein Retter». Wörtlich müsste man übersetzen: «Gott meiner Gerechtigkeit». Gott rettet, indem er Gerechtigkeit schafft und der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhilft. Das passt gut zur vorangegangenen Lesung, welche die Ungerechtigkeit im Prozess Jesu hervorhebt. Jesus – ein «Heiliger und Gerechter» – wurde zu unrecht verleugnet. Gott stellte die Gerechtigkeit aber wieder her, indem er seinen Knecht Jesus aus dem Tod ins Leben holte und so verherrlichte.
Der Psalm ändert dann die Sprechrichtung. Nicht mehr Gott wird angeredet, sondern eine Zuhörerschar, an deren Einsicht der Psalm appelliert: «Erkennt doch: Wunderbar handelt der Herr an den Frommen; der Herr erhört mich, wenn ich zu ihm rufe» (Ps 4,4). Im Gegensatz zur Einheitsübersetzung redet der hebräische Text nur von einem einzigen Frommen und davon, dass Gott ihn für sich ausgesondert, d. h. ausgewählt habe. So übersetzt der Münsterschwarzacher Psalter: «Erkennt: Den Treuen hat der Herr sich auserwählt». Wer ist dieser Fromme oder Treue? Im Hebräischen ist er der «chasid», also einer, an welchem Gott seine «chesed» (Treue, Huld, Liebe) erwiesen hat. Gottes Treue und Liebe bestehen gerade darin, dass er den Menschen, der an ihm hängt, in der Not nicht hängen lässt, sondern ihm Antwort gibt. Das entspricht der Ostererfahrung Jesu. Als Sohn hat er die Liebe des Vaters erlebt, die stärker ist als der Tod.
Natürlich gab und gibt es Zweifler, die bohrende Frage stellen: «Wer lässt uns Gutes erleben?» (Ps 4,7). Die Güte und das Wunderbare am Handeln Gottes sind halt nicht einfach offensichtlich. Gerade die Nächte menschlicher Notlagen verdunkeln sie. Kein Wunder also, wenn die Rettungserfahrung, von der der Beter spricht, nicht auf Anhieb einleuchtet. Darum bittet er: «Herr, lass dein Angesicht über uns leuchten». Das ist eigentlich eine Bitte um den göttlichen Segen (vgl. den aaronitischen Segen Num 6,25 f.). Nur Gott selber kann seine Güte erweisen und sich den Zweifelnden beweisen, indem er sein Angesicht, d. h. seine Zuwendung und Lebenskraft, dem Notleidenden aufleuchten lässt.

Vertrauen auf Erfüllung
Am Ende des Psalms bekräftigt der Beter noch einmal seine Erfahrung mit Gott. Er hat seine Güte erlebt – und zwar in einer Freude, die weiter reicht als eine Ernte in Fülle. Sie liegt über der Erfüllung der natürlichen Lebensbedürfnisse (Brot) und einer festlichen Freude (Wein). Diese Freude gründet letztlich in einem unerschütterten und unerschütterlichen Gottvertrauen. Diese Freude weist in der österlichen Liturgie auf die Freude des Auferstandenen hin. Er hat in seiner Todesnacht die Güte Gottes erlebt, sodass er in seiner Auferstehung das göttliche Antlitz und dessen Herrlichkeit widerspiegelt. Die Lebensfülle und -freude, die ihm zuteilgeworden sind, gehen über jeden irdischen Vergleich hinaus. Nur aus dieser Retrospektive erweist sich der grausame Tod Jesu als sorgloser Todesschlaf.
Psalm 4 «passt» als Antwort auf die erste Lesung am dritten Ostersonntag und als Kompletpsalm am Samstagabend. Er bezeugt die österliche Erfahrung Israels und Jesu von Nazarets und ruft im heutigen Hörer, in der heutigen Beterin, jenes Vertrauen wach, das – im Leben oder im Tod – in Gott geborgen sein lässt.