Wir beraten

Tränen lachen   

Peter Zürn zur Lesung in der Osternacht SKZ 14/2009

Alttestamentliche Lesung: Ex 14,15–15,1
Evangelium: Mk 16,1–7

«Tränen lachen» hiess die Sendung über jüdischen Humor, die am 6. März im ZDF zu sehen war. «Wir Juden», sagte darin ein Kabarettist, «haben eine merkwürdige Art zu feiern. Je mehr Leichen am Weg liegen, desto besser. Nehmen Sie Purim – Zehntausende tote Perser. Oder Pessach – Reihenweise ersaufen die Ägypter. Und wir feiern.» Achtung Satire! Noch dazu jüdische. «Ich bin Jude, ich darf das», sagt der deutsche Comedian Oliver Polak. Aber auch wir lesen die Geschichte vom Durchzug durchs Meer in der Osternacht. Und haben unsere Probleme damit. Was soll denn das für eine Heilsgeschichte sein, die über Leichen geht? Müssen die einen dran glauben, damit die anderen dran glauben können? Jüdische Bibelauslegung – humorvolle und ernste – kann uns helfen, mit dieser Geschichte umzugehen.

Mit Israel lesen

Georg Steins will «den anstössigen Text vom Durchzug durchs Schilfmeer (Ex 14) neu lesen».1 Auf zweierlei Weise:
1. Unter Einbezug der jüdischen Rezeption
Die moralische und theologische Anstössigkeit des Textes wird im rabbinischen Judentum vielfach diskutiert. Der babylonische Talmud etwa überliefert im Traktat Sahndedrin 39b folgendes Gespräch in der typischen Form jüdischer Bibelauslegung: «Freut sich denn der Heilige, gepriesen sei er, über das Unglück der Gottlosen, es heisst ja (2 Chr 20,21): während sie vor den Kampfgerüsteten einherzogen, sprachen sie: Dankt dem Herrn, denn ewig währt seine Gnade, und hierzu sagte R. Jonathan: Weshalb stehen hier in diesem Dankspruch nicht die Worte: denn er ist gütig (vgl. Ps 136,1)? Weil der Heilige, gepriesen sei er, sich nicht über das Unglück der Gottlosen freut! … Die Dienstengel wollten dann vor dem Heiligen, gepriesen sei er, das Lied anstimmen; da sprach der Heilige, gepriesen sei er, zu ihnen: Mein Händewerk ertrinkt im Meer, und ihr wollt vor mir das Lied anstimmen!? R. Jose b. Chanina erklärte: Er selbst freut sich darüber nicht, wohl aber lässt er andere sich freuen. Dies ist auch zu beweisen, denn es heisst (Dtn 28,63): sich freuen lassen, nicht aber: sich freuen.»2
Das wird im Judentum auch liturgisch nachvollzogen. Am Sederabend des Pessachfestes gibt es die Sitte, zehn Tropfen Wein zu versprengen, während die zehn Plagen vorgelesen werden. In der New Union Haggadah heisst es dazu: «Ja, Nachkommen derer sind wir, die gerettet wurden vom grausamen Mizrajim, ja, wir jubelten, als wir Bezwinger bezwungen sah’n. Doch das Triumphgefühl vermindert sich beim Anblick des furchtbaren Sterbens – so wie der Wein im Becher, wenn wir zehn Tropfen versprengen für die Plagen über Mizrajim.»3
Die jahrhundertelange jüdische Reflexion (von der Weish 19,1–4.13–17 ein innerbiblisches Beispiel ist) ringt mit der Erfahrung, dass Befreiungsbewegungen, seien sie persönlicher oder politischer Art, oftmals bei anderen Leid verursachen.
2. Den Text im Kontext lesen
Im Erzählzusammenhang (Ex 12,1–15,21) sind die eigentlichen Handlungsteile des Textes minimal. Stattdessen überwiegen Reden mit Anweisungen zur späteren Feier und Deutungen des Geschehens. Der Erzählfluss wird unterbrochen, und zwar genau auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung (12,43). Das gleiche Muster findet sich noch einmal in 15,1–21. Die Lieder des Mose und der Mirjam sind mehr als spontane Reaktionen auf die wunderbare Rettung. Sie öffnen das Geschehen am Meer in die Zukunft, auf die Rettung Israels im Meer der Völker späterer Zeiten hin (15,14–16). Das Ziel der gesamten Passage ist die Gestaltung von Erinnerung: zeitlich in Ex 12,1–13,16 durch ein regelmässiges Fest (Pessach), räumlich in Ex 15,17 durch einen Erinnerungsort, die Wohnung Gottes, den Tempel in Jerusalem. «Mit dieser Komposition wird die Wundergeschichte Ex 14 in einen Zusammenhang gestellt, der aufzeigt, wann und wo die späteren Leserinnen und Leser dieses Wunder in ihrem eigenen Leben erfahren können.»4 Die Bibel nimmt das Rettungswunder aus der Vergangenheit heraus und stellt es in einen zeitlichen und räumlichen Kontext, an dem sich das Wunder der Rettung immer wieder neu erfahren lässt. Steins nennt das die «sakramentale oder anamnetische Strategie (im Sinne der Vergegenwärtigung des Heils) des Bibelkanons».5 Die Bibel gestaltet Erinnerung, d. h. sie vergegenwärtigt Vergangenes so, dass es sich für die Späteren lebensprägend auswirken kann. Ihr entscheidender Bezugspunkt ist nicht die Historie, sondern die Gegenwart. Wer also Pessach (mit-)feiert und wer zum Tempel kommt und den rettenden Gott besingt, zieht je neu durch das Meer in das Leben und die Freiheit.
Der Exodustext bietet keinerlei historisch verwertbaren Anhaltspunkte, weder geographisch, noch zeitlich, der Pharao bleibt namenlos. Hier wird «nicht historisch gesprochen, sondern eine andere Ebene der Wirklichkeitswahrnehmung berührt … Es geht um einen Konflikt zwischen JHWH, dem Gott Israels, und der Todesmacht, für die Pharao und Ägypten Chiffren sind.»6 Damit wird der Text nicht wirklichkeitsfremd, im Gegenteil. Die Wirklichkeit wird unter der grundlegenden Perspektive von Leben und Tod wahrgenommen. Ex 14 ist kein Kriegsbericht, sondern eine Offenbarungsgeschichte – Offenbarungen über Gott und die Welt. Gott zeigt sich als Gott des Lebens und seine Schöpfung als Raum zum Leben in Fülle. Der Text ist eng verbunden mit dem Schöpfungsbericht in Gen 1 (Wasser, Finsternis, das Trockene, Nacht, Licht …). Das Volk Israel soll zum Glauben kommen, dass nicht die Todesmächte das letzte Wort haben werden, sondern das Leben. Damit wird auch deutlich, was die Bibel unter Wunder versteht. Sie sind kein «zauberhafter Eingriff in die erschaffene Schöpfung, sondern ganz … Zeichen, ganz Sichtbarmachung und Lautwerdung der ursprünglich in der stummen Nacht der Schöpfung verborgenen Vorsehung – ganz Offenbarung. Die Offenbarung ist also allzeit neu, nur weil sie uralt ist. Sie erneuert die uralte Schöpfung zur immer neu geschaffenen Gegenwart.»7

Mit der Kirche lesen

So gelesen enthält der Text die biblische Osterbotschaft, wie sie in der Liturgie der Osternacht gefeiert wird: Gott rettet sein Volk aus der Macht des Todes. Steins verweist auf eine Kurzformel in der alten lateinischen Ostersequenz: «mors et vita duello» – «Tod und Leben im Zweikampf» – eine Zusammenfassung des Lesungstextes und ein Schlüssel dazu. Auch der Schluss des Markusevangeliums spielt auf Gen 1 an. Jetzt aber, nach dem Jahr 70, ist der biblische Schöpfungs- und Rettungsglaube fraglich geworden. Im Jüdischen Krieg lagen nicht die Rosse und Reiter des Kaisers / Pharaos am Ufer, das Galiläische Meer färbte sich stattdessen rot vom Blut des Volkes Israel. Markus erzählt, dass der geliebte Sohn Gottes den Weg ans Kreuz geht. Wie damit und daraus zu leben ist, bleibt am Ende des Evangeliums offen, auch wenn die Leseordnung versucht, uns den Schrecken, das Entsetzen und das Verstummen der Frauen am Grab zu ersparen (Mk 16,8). Osterlachen kann darum kein triumphalistisches Lachen sein. An Ostern lachen heisst, Tränen lachen.

1 So der Titel seines Beitrags in Bibel und Kirche 4/2007 zum Thema Exodus.
2 Zitiert nach ebd., 232.
3 Zitiert nach ebd., 233.
4 Ebd, 235.
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Franz Rosenzweig zitiert nach: W. Gunther Plaut (Hrsg.): Die Tora in jüdischer Auslegung, Band II. Gütersloh 2000, 153 f