Wir beraten

Wie ist das Lied vom Gottesknecht am Karfreitag zu lesen?   

Winfried Bader zur Lesung am Karfreitag SKZ 14/2009

Alttestamentliche Lesung: Jes 52,13–53,12
Evangelium: Joh 18,1–19,42

Das vierte Lied vom Gottesknecht ist in jedem Lesejahr die Lesung des Karfreitags, der Text also hier in der SKZ schon zweimal ausgelegt1. Das führt zur hermeneutischen Frage mit sehr handfesten Konsequenzen, wenn man die Bibel als norma normans non normata betrachtet: Wie vielfältig lässt sich die Bibel auslegen? Entgegen diesem fundamentaltheologischen Grundsatz versucht das Lehramt zur Vermeidung von Beliebigkeit vor die Bibelauslegung eine Norm zu stellen: das fleischgewordene Wort als Norm – so die Weltbischofssynode im Oktober – oder das Credo der Kirche. Aber beides setzt den geschriebenen Bibeltext bereits voraus, ist also ein Zirkelschluss. Die Vielfalt der Bibelauslegung darf aber nicht beschränkt werden. Gerade der Karfreitag zeigt uns das bereits bibelintern: Das Leiden und Sterben Jesu Christi wird vierfach auf unterschiedliche Weise erzählt. Richtschnur zur Unterscheidung von Vielfalt und Beliebigkeit ist die Argumentation aus dem Text selbst. Umberto Eco formuliert griffig diese Hermeneutik der Textauslegung: «Ein Text lässt viele Interpretationen zu, aber nicht jede beliebige.»

Mit Israel lesen

Das vierte Gottesknechtslied zeigt in seiner Auslegungsgeschichte wie ein Text seine Aussage auf Grund von historischen Situationen und Ereignissen verändern kann. Einfallstor für die verschiedenen Deutungen ist der Text selbst. Er lässt zum einen offen, wer ursprünglich der Knecht war. Ist dieser leidende Mensch ein Einzelner, der sich benennen lässt, z. B. der Prophet selbst, oder kollektiv das ganze Volk Israel. Zum anderen ist mit dem Thema des Leidens ein Urmotiv angesprochen, das Menschen, sobald sie denken, beschäftigt. So wurde der Text für die Reflexion über den entsetzlichen Holocaust der jüngsten Vergangenheit genauso herangezogen wie für das schmachvolle Leiden dessen, der als Gottes Sohn betrachtet wurde. Welche Aspekte stecken im Text?
Der Text hat drei Teile: Formal betrachtet ist es die Rede einer Gruppe in der Mitte («Gesang des Chores»), gerahmt von zwei Gottesreden. Oder inhaltlich: der Aufstieg aus der Tiefe, das Schuldbekenntnis der Völker und Könige und die Verheissung für den Gottesknecht.
Der Einstieg verblüfft: «Siehe, mein Knecht hat Erfolg» (Jes 52,13). Wie kann dieser Knecht, der im folgenden Text so leidet, Erfolg haben? Ist es eine Sache des Standpunktes, wie man Erfolg definiert, um zu dieser Aussage zu kommen? Du Knecht, bist erfolgreich, weil man von dir noch in 2500 Jahren spricht. Du zeigst, dass nicht die Schönheitsnormen der Massstab sind, das nicht das äussere Aussehen über die Menschlichkeit entscheidet (vgl. Jes 52,14). Oder soll es für den Leidenden ein (billiger) Trost sein? Du Knecht, bist erfolgreich, weil ich dich erhöhe. Oder muss man Erfolg strenger definieren, dass bei Erfolg immer die Einsicht und die Absicht der Handlung vorausgesetzt wird? Dann ist der Knecht offensichtlich bewusst diesen Weg gegangen zu provozieren, die Menschen aufzubringen, bis er schliesslich von allen verachtet war.
Die Bilder des zweiten Teils führen ins Problem. Ist sonst das Bild des gerechten Menschen der Baum, der am Wasserkanal steht (Ps 1), so ist hier der verkrüppelte Wurzeltrieb in der Wüste das Bild für diesen Mann. Er ist so Ekel erregend hässlich, dass sich alle von ihm abwenden. Sein Leiden – was auch immer dieses genau ist – wird verstärkt durch die Isolation von der Gesellschaft. Der Knecht passt nicht in die Norm der schönen und edlen Gestalt (Jes 53,2) aus der Werbung und wird daher ausgeschlossen. Ps 1 gibt das Recht: Die Gerechtigkeit vor Gott zeigt sich im Bild des grünen Baums, im Reichtum des Ijob, und zeigt sich im Geschäftserfolg der Calvinisten. Ein unansehnlicher kranker Krüppel ist von Gott selbst gestraft und geschlagen für seine Schuld, so dann die Logik. Weil er schuldig ist, dürfen ihn dann die Menschen noch zusätzlich strafen und aus ihrer Gesellschaft ausschliessen. Dieser Mechanismus wird im Text durchschaut und durchbrochen. Die Völker und Könige, die hier reden, erkennen dies. Sie sehen: «Er hat unsere Krankheit getragen» (Jes 53,4), bekennen ihren Irrtum: «Wir meinten, er sei von Gott abgelehnt und geschlagen» (Jes 53,4) und korrigieren sich: «Er ist verletzt wegen unserer Frevel» (Jes 53,5).
Der Mechanismus der Schuld aller ist aufgedeckt und gegenüber Gott bleibt alleine der Vorwurf, warum er nicht eingegriffen hat, das Volk nicht abgehalten hat, den Knecht noch zusätzlich zu schlagen und zu verletzen (Jes 53,6). Es ist die Frage nach dem Schweigen Gottes beim Holocaust, die sich noch nicht wirklich löst mit der Feststellung, dass so lange Gott schweigt, es ihn noch gibt.
Was macht das Leiden dieses Knechts für einen Sinn. Liegt der Erfolg in der Sühne, die durch sein Leiden für die anderen entsteht? Dies ist wohl die grösste Wirkungsgeschichte des Textes – auch bei einigen jüdischen Auslegern. Doch lässt sich die These von einem stellvertretenden Sühneleiden für die hebräische Bibel nicht belegen. In Jes 53,5 heisst es – auch in der Einheitsübersetzung richtig: «Er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen» und nicht wie die Vertreter des Sühnegedankens, z. B. Buber-Rosenzweig wiedergeben: «für unsere Verbrechen». «Wegen» setzt den oben schon angedeuteten Gedanken fort, dass das eigentliche und grosse Leiden des Knechts die Ursache in den anderen hat, die ihn für seine vermeintliche Schuld bestrafen, die ihn ausschliessen, die sich sadistisch an den Schmerzen, die sie ihm zufügen, für ihr eigenes Wohlbefinden befriedigen (Jes 53,5b). Gegen den Sühnegedanken sprechen auch die Bestimmungen im Buch Deuteronomium und anderswo (z. B. Dtn 24,16; 2 Kön 14,6; Ez 18,20; Jer 31,28 f.). Auch der Sündenbock aus Lev 16,21 f. nimmt nicht die Sünden auf sich, sondern wie auch sonst Opfertiere ist er Ersatz für das Opfer, das der Mensch eigentlich selbst ist.
Der Aufstieg des Knechtes im dritten Teil hat als zentralen Grund das Eingestehen der eigenen Schuld in Jes 53,10a, dort wörtlich: «Wenn seine Seele eine Schuld setzt.» Wenn der Knecht also bekennt und zugibt, dass er schuldig ist – so wie nach dem Verständnis der Rabbinen (in Anschluss an PS 69,6) es den völlig schuldlosen Mensch gar nicht gibt –, dann wird ihm nach der Läuterung durch sein Leiden eine glückliche Zukunft gegeben mit langem Leben und Nachkommen (Jes 53,10b).

Mit der Kirche lesen

Das Lied des Gottesknechtes am Karfreitag zu lesen heisst, aufmerksam zu werden für die vielschichtigen Dimensionen des Kreuzestodes Jesus. Die im christlichen Sinne durchaus richtige Aussage «Jesus starb für unsere Sünden» wirkt so plötzlich nicht mehr selbstverständlich und wir sind gefordert, auf Grund der neutestamentlichen Passionsberichte genau zu schauen, um was es geht. Die Sicht der vorgetragen Auslegungen mahnt uns auch, die hebräische Bibel und besonders Deuterojesaja nicht unseren jüdischen Glaubensgeschwistern zu entreissen.

1 Dieter Bauer: Die Umkehr der «Opferer», in: SKZ 175 (2007), Nr. 12, 197, und: Ursula Rapp: Sich wandeln, in: SKZ 176 (2008), Nr. 10, 157.