Wir beraten

«Lasst uns zusammen vortreten!»   

Peter Zürn zur Lesung am Palmsonntag SKZ 13/2009

Alttestamentliche Lesung: Jes 50,4–7
Evangelium: Mk 14,1–15,47

Mit dem Palmsonntag beginnt die Karwoche. In der Geschichte unserer Kirche war das leider die Zeit, in der sich christlicher Antijudaismus am stärksten gezeigt hat. Grund genug, die unauflösliche Verbundenheit zwischen Kirche und Judentum ins Zentrum der heutigen Auslegung zu stellen.

Mit Israel und der Kirche lesen

Zum dritten Mal geht es innerhalb dieser Auslegungsreihe um die vier Verse von Jes 50,4–7.1 Sie bilden in jedem Lesejahr die Lesung am Palmsonntag und werden jeweils mit der Passionsgeschichte eines Evangeliums verbunden. Lässt sich noch Neues über diesen Text sagen? Ja, natürlich. Gerade, dass der Text in jedem Lesejahr auftritt, ist ein Lesehinweis. Die unterschiedlichen Deutungen der Passion Jesu in den Evangelien werden mit der gleichen alttestamentlichen Figur verbunden, die uns in Jes 50 entgegentritt und die die Tradition als Gottesknecht bezeichnet. Im Judentum wird der Gottesknecht als Verkörperung des Volkes Israel verstanden. Also lautet die Leseanweisung der Leseordnung: Wie ihr auch die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu erzählt und deutet, nach Matthäus, nach Lukas oder nach Markus, vergesst dabei nicht, dass die Passion Jesu immer auch die Leidensgeschichte seines Volkes, des Volkes Israel, erzählt!
Am 9. November 2008 – 70 Jahre nach 1938 – erzählte Werner Merzbacher2, wie damals Hitlerjungen den Rabbiner seiner Heimatstadt auf der Strasse verprügelten und ihm den Bart ausrissen. Dem Kind Werner Merzbacher gelang die Flucht in die Schweiz. Der Rabbiner wurde höchstwahrscheinlich, wie Merzbachers Eltern, ermordet. Was die Stimme in Jes 50,4–7 von sich erzählt, mussten Millionen jüdischer Menschen zwischen 1933 und 1945 erleiden. Von den meisten blieb keine Stimme erhalten, kein Grab, nur Asche im Wind. Jüdische und christliche Theologinnen und Theologen fragen, wie wir nach Auschwitz von Gott und miteinander reden können. Tastende Antwortversuche sind unternommen worden.3 Wir, die Nachgeborenen der dritten und vierten Generation, knüpfen daran an. Wir werden bald nicht mehr durch Zeitzeugen mit damals verbunden sein. Uns eröffnen sich aber vielleicht Wege, die den Überlebenden, seien es Opfer oder Täter, und ihren direkten Nachkommen noch nicht zu gehen möglich waren. Woran können wir uns orientieren? An biblischen Texten.
Jes 50,4–7 als Teil von Deuterojesaja ist ein tastender theologischer Antwortversuch auf die Passion des Volkes Israel nach 587. Das Land Juda und die Stadt Jerusalem wurden verwüstet, der Tempel zerstört, Tausende starben, grosse Teile der überlebenden Oberschicht wurden nach Babylon deportiert. Eine Deutung des furchtbaren Leidens hiess wohl: Gott hat sein Volk für seine Sünden bestraft. Jes 50 wendet sich gegen diese Deutung oder bricht sie doch zumindest auf: «Er, der mich freispricht, ist nahe … Seht her, Gott, der Herr, wird mir helfen. Wer kann mich für schuldig erklären?» (50,8).
Die Deutung, gegen die sich Jesaja wendet, wurde auch nach dem Jahr 70 laut. Wieder lagen Jerusalem und der Tempel in Trümmern, wieder waren Zehntausende im Krieg verhungert oder erschlagen worden. Die Deutung der Katastrophe als göttliche Strafe ist diesmal nicht nur eine Stimme im innerjüdischen Ringen um das Leben und Glauben danach. Sie wird zu einer Stimme der christlichen Kirche, die sich von ihren Wurzeln löst und an die Stelle Israels als «wahres» Volk Gottes treten will. Sie deutet die Zerstörung Jerusalems als Strafe für die Kreuzigung Jesu. Die Passion Jesu wird gegen sein eigenes Volk gewendet. Die Kirche, die dieser Stimme folgt, tut im Laufe ihrer Geschichte dem Volk Israel all das – und noch viel Schlimmeres – an, was Jes 50,6–7 beklagt. Diese Kirche versucht das Judentum in Schande zu bringen und tut sich selbst Schande an. Auch die Kirche lebt aus der Hoffnung auf Gott, der nicht in Schande enden lässt (Jes 50,7).
Das Markusevangelium, das um das Jahr 70 herum entstand, und insbesondere seine Passionsgeschichte lassen sich als Widerspruch dagegen lesen: Das Schicksal Jesu ist nicht vom Schicksal seines Volkes zu trennen. Im Gegenteil: In der Erzählung von der Passion Jesu erzählt Markus die Passion des Volkes Israel im Krieg gegen die Römer.4 Das Evangelium und vor allem seine Passionsgeschichte leisten Trauerarbeit. Sie trauern um Tausende von Gottesknechten und Gottesmägden, die verhöhnt, erschlagen, gekreuzigt und versklavt wurden. Das Markusevangelium ist auch ein tastender Versuch, nach dieser Katastrophe noch von Gott zu sprechen. Es fragt nach dem Gott der Schöpfung, der den Chaosmächten Grenzen setzt, nach dem Gott des Exodus, der aus den Händen von Pharaonen und Imperatoren befreit; nach dem Gott, der Menschen zum Leben aufweckt und aufrichtet. Wo war Gott im Jahr 70? Hat nicht das Evangelium des Kaisers über das Evangelium von Tora und Propheten gesiegt?
Mit dem Wort «Evangelium» hat Markus seinen Text glanz- und machtvoll begonnen (Mk 1,1). In 14,9 nimmt er das Wort wieder auf. Die Erwartungen vom «Palmsonntag», dass das «Reich unseres Vaters David kommt» (Mk 11,10) haben sich nicht erfüllt. Der Messias wird zum Begräbnis gesalbt. Der Gesalbte folgt seinem Volk ins Leiden und Sterben. «Der leuchtende Glanz (des ‹Evangeliums› PZ) ist verschwunden und auch von der erinnerten Macht scheint keine Spur zurückgeblieben zu sein. Mk 14,9 zeigt uns das Evangelium in seiner dürftigsten Gestalt. Aber noch ist es da, noch ist es das «Nein!» zu der Selbstgefälligkeit der römischen Imperatoren … Und vielleicht ist dieser elend-ohnmächtige Anspruch in Zeiten wie denen des Markus die einzige Gestalt, in der das Evangelium überhaupt noch anzutreffen ist.»5 Es ist das Evangelium in Gestalt des Gottesknechtes von Jes 50.
Gehen wir ein paar Verse und Tage weiter. Das Markusevangelium endet mit Angst und Entsetzen. Was ist das für eine Osterbotschaft? «Mit dieser Angst ist zu leben. Ob das geht, wird sich zeigen müssen. Wie es weitergeht, wird sich zeigen müssen … Markus will – so scheint mir – dass die Gemeinde versteht, dass alles vorbei ist, dass es so auf alle Fälle nicht mehr weitergeht, nie mehr weitergehen wird. Er will sie konfrontieren mit der Angst. Er bringt keine erlogene und erstunkene Osterfreude.»6 Das Ende des Evangeliums weist nach Galiläa, dorthin, wo Menschen aufgerichtet, auferweckt wurden – vielleicht zuerst ihr Ohr wie in Jes 50,4. Solches für möglich zu halten und möglich zu machen ist der Weg. «Und so machte sich die Ecclesia des Markus auf den Weg – und kam vom Weg ab und fand ihn wieder, verlor ihn, fand ihn wieder und so weiter, in Weltzeit. Bis dass er kommt.»7
Nach Auschwitz von Gott und miteinander reden – ein Weg für jüdische und christliche Menschen8. Beginnen wir mit dem Gebet von Jes 50,4: «Gott, gib uns die Zunge einer Schülerin und eines Schülers, die Zunge eines Übenden. Und wecke unser Ohr jeden Morgen, damit wir auf dich hören wie Übende.» – «Lasst uns zusammen vortreten!» (Jes 50,8).


1 Vgl. SKZ 175 (2007), 194, 176 (2008), 155.
2 Im Rahmen der Veranstaltung «Am Übergang. 70 Jahre Reichspogromnacht in Deutschland. 70 Jahre Judenstempel an der Schweizer Grenze» in der Propstei Wislikofen AG.
3 Michael Brocke und Herbert Jochum stellen in ihrem Buch: «Wolkensäule und Feuerschein». Gütersloh 1993, jüdische Theologie des Holocaust vor – 12 tastende Versuche.
4 Näheres bei Peter Zürn: Das Karsamstags-Evangelium, in: SKZ 176 (2008), 760–763.
5 Andreas Bedenbender: Der Epilog des Markusevangeliums – revisited in: Texte und Kontexte 81–82 / 1999, 28–64, hier 33.
6 Ton Verkamp: Vom ersten Tag nach jenem Sabbat. Der Epilog des Markusevangeliums. 15,33–16,8 in: Texte und Kontexte 13 / 1982, 5–34, hier 32.
7 Ebd., 34.
8 Am 9. November in Wislikofen sind Schritte auf diesem Weg gegangen worden.