Wir beraten

«Neues» Testament? – Von wegen!   

Dieter Bauer zur Lesung am 5. Fastensonntag SKZ 12/2009

Alttestamentliche Lesung: Jer 31,31–34
Evangelium: Joh 12,20–33

Was meinen Sie: Können Menschen sich im Laufe ihres Lebens wirklich grundlegend ändern? Und falls Sie die Frage mit «Ja» beantworten sollten: Gilt das auch für verurteilte Straftäter? Ich weiss, dass sich solche Fragen nicht pauschal beantworten lassen. Aber ich halte die Tatsache, dass die zuletzt genannte Frage mit grosser Regelmässigkeit (immer wenn «etwas passiert» ist) in der Öffentlichkeit auftaucht, für bedenkenswert. Denn dann gibt es immer Mehrheiten in der Bevölkerung, die massiv dafür plädieren würden, dass sich solche «böse» Menschen sicher nicht ändern (und deshalb «weggesperrt» gehören). Der Prophet Jeremia sieht das im Übrigen ähnlich:

Mit Israel lesen

Von ihm ist der Ausspruch überliefert: Ändert wohl ein Neger seine Hautfarbe / oder ein Leopard seine Flecken? Dann könntet auch ihr euch noch bessern, / die ihr ans Böse gewöhnt seid (Jer 13,23). Das klingt nicht gerade optimistisch in Hinsicht auf die Veränderungsmöglichkeiten des Menschen! Wie kommt Jeremia zu dieser Sicht?
Als erstes ist einmal davor zu warnen, dies als «die Position der Bibel» oder gar «des Alten Testaments» zu verstehen. Sie stimmt nämlich nicht einmal pauschal auf Jeremia selbst. Diese Worte gehören zu einer ganz konkreten Situation in der Geschichte Judas. Sie sind eben nicht allgemeinmenschlich gemeint! Was aber war diese konkrete Situation, die Jeremia zu dieser Überzeugung kommen liess?
Mit grosser Wahrscheinlichkeit gehören diese Worte in die Zeit um die Katastrophe der ersten Eroberung Jerusalems 597/96 v. Chr. durch die Babylonier. Jahrelang hatte Jeremia vor dieser hochgefährlichen Supermacht des Vorderen Orients gewarnt und war nicht gehört worden: nicht vom Volk, vor allem aber nicht von den Verantwortlichen im Staat und am allerwenigsten vom König selbst, der sogar eine «Bücherverbrennung» vornahm (Jer 36), um Jeremias Worte nicht ernst nehmen zu müssen.
Sehenden Auges war Juda in seinen Untergang hineingestolpert. So jedenfalls musste es Jeremia sehen. Und er hatte jedes Recht zu fragen, ob sich daran wohl jemals etwas ändern würde. Um so überraschender sind dann allerdings die Worte, die uns im so genannten «Trostbüchlein» Jeremias überliefert werden: Seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn –, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schliessen werde (Jer 31,31).
Davon, dass der Mensch sich ändern kann, ist zwar auch hier keine Rede. Aber Gott wird die Initiative ergreifen. In der Einsicht, dass es so wie bisher nicht funktioniert, ändert er die Strategie. Er schliesst einen «neuen Bund» mit den Menschen. Er ganz allein schafft die Möglichkeiten für einen Neubeginn nach der Katastrophe. Aber was soll nun anders sein als früher?
Der «neue Bund» wird nicht mehr so sein wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des Herrn (V. 32). Es ist klar: Dieser «alte Bund» ist der Bund, der mit Abraham, Isaak und Jakob sowie mit Mose geschlossen war. Was aber war das «Problem» mit dem «alten Bund»?
Nehmen wir die Beschreibung wörtlich, so scheint es, dass dieser «alte Bund» ein totales Abhängigkeitsverhältnis beschrieb: Gott musste Israel «an die Hand nehmen» wie ein kleines Kind. Er war ihr «Gebieter» (hebr. baal). Das aber klingt gar nicht nach freien selbstbestimmten Menschen, sondern eher nach kleinen abhängigen Kindern. Und wenn Erwachsene sich so behandelt fühlen, werden sie «kindisch».
Um nicht missverstanden zu werden: Damit ist weder gesagt, dass der «alte Bund» so gedacht war, noch dass Gott der «Baal» ist, als den ihn Israel sah, im Gegenteil. Der «neue Bund» spricht dagegen! Dort wird nämlich der Mensch ermächtigt, ohne irgendwelche Vorleistungen und Schuldbelastungen ein neues Verhältnis zu Gott zu finden: Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schliesse – Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein. Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, Klein und Gross, werden mich erkennen – Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr (Jer 31,32–34).
Aus der Sicht Jeremias kann nur Gott selbst es den Menschen ermöglichen, ihn als das zu erkennen, was letztlich für ihn gut ist. So lange das «Gesetz» (= die Tora) etwas Äusserliches bleibt und nicht verinnerlicht ist, wird es zum Machtinstrument und wird Abhängigkeiten schaffen. Wir kennen dies aus Zeiten, in denen in der katholischen Kirche der Katechismus an die Stelle der lebendigen biblischen Überlieferung getreten war. Doch erst dann, wenn jede Belehrung überflüssig wird, weil jede/r weiss, was zu tun ist, herrscht die Freiheit der Kinder Gottes.
Natürlich liegt hier die Vermutung nahe, das erste Experiment des «alten Bundes» sei gescheitert und erst der «neue Bund» habe das Eigentliche zum Vorschein gebracht. Für das Judentum war und ist eine solche Vorstellung undenkbar. Viel wurde darüber nachgedacht, was denn nun das Neue am «neuen Bund» gegenüber dem alten sein solle: «Das Neue ist, dass der Bund Bestand hat und nicht gebrochen wird, anders als der Bund, den der Herr am Sinai mit den Israeliten geschlossen hatte und der gebrochen worden ist … Es gibt keinen neuen Bund, sondern nur das Einhalten des alten. Entsprechend verkündet Maleachi, der letzte der Propheten (3,22): ‹Gedenkt der Tora meines Dieners Mose, die ich ihm am Horeb geboten habe für ganz Israel – Gesetze und Rechtsvorschriften› … Daraus kannst Du ersehen, dass es nie eine neue Tora geben wird; es handelt sich immer um jene, die am Sinai erlassen worden ist» (Rabbi David Kimchi1).

Mit der Kirche lesen

Natürlich hatte die Okkupation des «neuen Bundes» («Neues Testament») durch die Christen die Diskussion verschärft. So bemerkt Rabbi Joseph Ibn Nachmias Anfang des 14. Jahrhunderts: «Die Nichtjuden (= Christen) irrten sich, wenn sie den neuen Bund als neue Lehre verstanden, die ihnen von jenem Mann (= Jesus) erneuert worden ist».2 Und von Martin Buber ist als ein Wort der Entgegnung und des Widerspruchs gegen die christliche These das Wort überliefert: «der Bund ist mir nicht aufgekündigt». Aus heutiger christlicher Sicht kann man dem nur zustimmen, wie ja auch Papst Johannes Paul II. in einer Ansprache am 17. November 1980 in Mainz den Vertretern der jüdischen Gemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland gesagt hat, sie seien «das Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes». Nach christlicher Überzeugung ist auch die Kirche in diesem Bund: Gott hat in seiner Barmherzigkeit durch den Messias Jesus aus «Fernen» «Nahe» gemacht und die Völker in den Bund Israels hineingenommen (vgl. Eph. 2, 13 f.). An uns Christen wäre es nun, uns unserer Wurzeln (Röm 11,16–18) als würdig zu erweisen.

1 Zitiert bei: Roland Gradwohl: Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Bd. 2: Die alttestamentlichen Predigttexte des 4. Jahrgangs, Stuttgart 2002, 298.
2 Ebd.