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Alles zerrinnt – wie weiter?   

Winfried Bader zur Lesung am 4. Fastensonntag – Laetare SKZ 11/2009

Alttestamentliche Lesung: 2 Chr 36,14–16.19–23
Evangelium: Joh 3,14–21

Immer wieder bescheren wir Menschen uns gegenseitig Krisen, wo alles zerrinnt, nichts mehr ist, wie es vorher war. Die Zerstörung Jerusalems vor 2595 und nochmals vor 1939 Jahren, der Fall Roms, der Dreissigjährige Krieg, die Feldzüge Napoleons, die Schrecken des Holocausts sind solche Grossereignisse, wo niemand wusste, wie es weitergeht. Auch in der «schwierigen Situation in der Kirche heute»1 nach dem «skandalösen Amtsfehler»2 des Papstes oder in¬mitten der grossen Finanzkrise, nachdem in einigen Branchen die Seifenblasen zerplatzt sind, lautet die fast prophetische Frage: Wie weiter, wenn die Ideen des Vaticanum II und die Aktienkurse zerrinnen?

Mit Israel lesen

Die heutige Lesung ist der Schluss der beiden Chronikbücher. In der üblichen Anordnung des Ersten Testaments ist es das Ende der hebräischen Bibel. Zerstörung und Ausblick ist das Thema: Wie geht es weiter, wenn alles zerrinnt?
Was gibt es für neue Perspektiven, wenn Jerusalem zerstört ist?
Die Lesungsperikope setzt ein bei der Aufzählung der Sünden der Männer Judas, mitten in dem Abschnitt (2 Chr 36,11–16), der die Regierungszeit des Königs Zidkija behandelt. Mattanja wurde 597 v. Chr., nachdem der König Jojachin die Stadt Jerusalem an das babylonische Heer übergeben hatte und zusammen mit einem Teil der Oberschicht nach Babylon deportiert wurde (2 Kön 24,10–16), von Nebukadnezzar an Stelle seines Neffen zum König eingesetzt (2 Kön 24,17) und in Zidkija («meine Gerechtigkeit ist YHWH») umbenannt. Die Katastrophe war vorbei, mit der von aussen gestützten Neubesetzung des «Konzernchefs» soll es gut weiter gehen.
Das Chronikbuch zählt die Sünden Zidkijas und seiner Generation auf. Gegenüber den Königsbüchern hat Chr eine andere Sicht. Dort in 2 Kön ist die Geschichte der Könige eine Geschichte sukzessiv anwachsender Sünden, die in ihrer Summe zur Katastrophe führen. Im Chronikbuch erhält jede Generation ihre je eigene Strafe – für die Beurteilung unserer heutigen Generation, nicht nur in Bezug auf die Ausbeutung der ökologischen und ökonomischen Ressourcen, eine interessante Sichtweise.
Die Sünden des Königs Zidkija sind: Ungehorsam gegenüber dem ihm durch den Propheten Jeremia übermittelten Willen YHWHs, Missachtung des bei YHWH – bei Kyrus wird dieser Bezug zu YHWH weitergeführt – dem Nebukadnezzar geschworenen Loyalitätseid und die Verweigerung der Umkehr zu YHWH (2 Chr 36,12–13).
Für die führende Schicht des Volkes wird an Sünden aufgezählt: Götzendienst, kultische Verunreinigung des Tempels, Missachtung und Verspottung der Propheten (2 Chr 36,14–16). Das veranlasst Gott zur Strafe gegen sein Volk.
Ganz knapp nur schildert das Chronikbuch die Strafe des Untergangs Jerusalems – ausschliesslich die Stadt ist von dem Untergang betroffen – und setzt dabei gegenüber dem Bericht aus 2 Kön 25 andere Akzente.
Theologisch pointiert konstatiert V.21, dass das Geschehen die Erfüllung eines Prophetenworts ist. Schon V.17, der in der Lesung ausgelassen wird, sagt, dass YHWH die Chaldäer schickt. Der Aramäer Stamm aus dem Süden Mesopotamiens, der ab 625 v. Chr. die Herrschaft im babylonischen Reich übernahm, wird zum Werkzeug Gottes gegen sein eigenes Volk. Die Deportation der Oberschicht wird von vorneherein nur als eine zeitlich begrenzte Strafe gesehen: «bis das Reich der Perser zur Herrschaft kam» (2 Chr 36,20). Die abschlies¬sende Deutung V.21 kombiniert prophetische und priesterliche Theologie: Nach der in Lev 26 präsentierten priesterlichen Theologie ist das Exil der Bewohner des Landes die Strafe für die Verunreinigung, die sie dem Land vor allem durch die Missachtung des Sabbatgebotes zugefügt haben. Für das Land selbst ist die Exilszeit die «Ruhe», die es braucht. Nach der Prophetie des Jeremia wird das Exil nach 70 Jahren zu Ende sein (Jer 25,12). Beide Vorstellungen werden im Chronikbuch zusammengebunden. Die Zeit in der Fremde ist Zeit der Sühne (das Land kann sich erholen) und der Erneuerung. Es geht um einen Neuanfang in einem fundamental wiederhergestellten Land.
Das Chronikbuch bietet den Erlass des Kyrus, den es so wahrscheinlich historisch nicht gab, im hebräischen Wortlaut von Esra 1,2–3, der gegenüber der aramäischen Fassung in Esra 6,3–5 die Frage der konkreten Finanzierung in der Schwebe lässt, dafür die Rückführung des Volkes betont. Die Rückkehr grösserer Teile des Volkes und der Wiederaufbau des Tempels, der sicherlich erst ab 520 v. Chr. anzusetzen ist, wird auf anachronistische Weise in das 1. Regierungsjahr des Kyrus (538 v. Chr.) zurückversetzt, die Intention der Politik von Kyrus aber sicherlich richtig wiedergegeben.
Interessant ist, dass Gott auch für sein positives Wirken an seinem Volk diesen fremden König braucht, der in Jes 45,1 sogar als Messias (Christus) betitelt wird: «So spricht der Herr zu Kyrus, seinem Gesalbten, den er an der rechten Hand gefasst hat, um ihm die Völker zu unterwerfen.»
Das Ende des Chronikbuchs setzt der Katastrophe, in der alles zerrinnt, als Kontrast diesen Neuanfang daneben. Es zeigt die programmatische Perspektive, wie es weitergeht.

Mit der Kirche lesen

Auch bei der Frage des Nikodemus an Jesus geht es um einen Neuanfang: «Wie kann ein Mensch neu geboren werden?» (Joh 3,4). Die Ermög¬lichung für den Neuanfang kommt wieder von aussen: «Gott hat seinen Sohn gesandt, damit die Welt durch ihn gerettet werde» (Joh 3,17). Es braucht auch hier wieder einen Christus, einen Messias, einen Gesalbten, der wie Kyrus von aussen kommt, damit dieser neue Anfang geschieht. Es braucht auch hier Zerstörung – allerdings auf neue Weise die hingebungsvolle Zerstörung des Sohnes selbst (Joh 3,16) – damit dieser Neuanfang geschehen kann.
So lange wie im damaligen Jerusalem angesichts der Probleme und Gefahren politisch taktiert und laviert wird, nur innerhalb des bestehenden Systems immer wieder andere Möglichkeiten probiert werden, kann auch heute die Katastrophe nicht aufgehalten, sondern nur um wenig hinausgezögert werden. Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltkrisen erfordern – freiwillig oder gewaltsam – radikale Veränderungen, um einen erfolgversprechenden Neustart zu ermöglichen. Und wer kommt heute als Messias von aussen, damit es in der schwierigen Situation der zerrinnenden Kirche weiter geht?

Das Kyrus-Edikt

Anlässlich der Neujahrsfeier im Monat Nisannu 538 v. Chr. rief der Perserkönig nach Ernennung zum babylonischen König vor dem Volk sein Edikt aus: «Die jenseits des Tigris wohnenden Götter brachte ich zurück. Alle ihre Leute versammelte ich und brachte sie zurück zu ihren Wohnorten. Und die Götter von Sumer und Akkad, die Nabonid zum Zorn der Götter nach Babylon brachte, liess ich auf Befehl Marduks in ihren Heiligtümern einen Wohnsitz der Herzensfreude beziehen, mögen diese Götter, die ich in ihre Städte zurückbrachte, Tag für Tag vor Bel und Nabu die Verlängerung meiner Lebenszeit befürworten.»
(Text auf dem Kyrus-Zylinder im Britischen Museum, Zeilen 21 und 33–35)

1 Bischof Kurt Koch: Brief an die Gläubigen zur schwierigen Situation in der Kirche heute (vom 6. Fe¬bruar 2009), in: SKZ 177 (2009), Nr. 7–8, 128–131.
2 Peter Hünermann: Excommunicatio – Communicatio, in: Herder Korrespondenz 63 (2009), Nr. 3, 119–125, hier 125.