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Fastenzeit – Zeit für Ver-rückte   

Peter Zürn zur Lesung am dritten Fastensonntag SKZ 10/2009

Alttestamentliche Lesung: Ex 20,1–17
Evangelium: Joh 2,13–25

Die Fastenzeit ist die Zeit des Umräumens. Wir verrücken die Möbel unseres Lebenshauses und gestalten unsere Lebensräume neu. Wir räumen auf mit scheinbar unverrückbaren Gewohnheiten, die Leben behindern. Ver-rückt werden wir Lebendiger.

Mit Israel lesen

Die «Zehn Gebote» heissen in der hebräischen Bibel und in der jüdischen Tradition debarim, Worte oder auch Geschichten. Macht es einen Unterschied, ob wir von Zehn Geboten oder von Zehn Worten sprechen? «Gebote» sind etwas Statisches, etwas Festgesetztes und Unverrückbares. «Worte» und noch viel stärker «Geschichten» hingegen sind beweglich, dynamisch, bilden einen kommunikativen Prozess, der weitergeht. Worte im biblischen Sinn sind eine Form von Praxis: «Das Wort geschieht …». Es geht um sich ereignende, wirkende, die Wirklichkeit verändernde, sie ver-rückende Worte und Geschichten.
Das Zehnwort (Dekalog) ist in der Bibel Teil des Bundesschlusses. Die Worte sind eingebettet in ein Beziehungsgeschehen. Der Bundesschluss ist Teil einer Befreiungsgeschichte. Der Dekalog konnte dem Volk nicht in Ägypten gegeben werden, denn die Worte richten sich nicht an Sklavinnen und Sklaven, sondern an freie Menschen. Der Dekalog wurde aber auch nicht dem Pharao gegeben. Der hätte die Zehn Worte sofort zu Geboten gemacht – mit sich selbst als von Gott autorisiertem Ausleger. Der Dekalog setzt Freiheit voraus. Rochus Zuurmond hat die zehn Worte in dem einen Aufruf zusammengefasst: «Verdirb jetzt deine Freiheit nicht!»1
Gebote und Gesetze werden den Menschen als Last auf die Schultern gelegt. Sie sollen das Festgesetzte in die Praxis umsetzen. Schaffen sie es nicht, sind sie Sünder. So sind die Zehn Gebote in der Geschichte der Kirche immer wieder verstanden worden. Zum Wesen der Tora, der Worte und Geschichten der Weisung, gehört es stattdessen, dass sie dynamisch sind. Sie werden immer wieder neu ausgelegt, sobald das alte Verständnis dem Pharao in die Hände gefallen ist, d. h. sobald es zum Machtmittel der Unterdrücker geworden ist. Die Tora erneuert sich in der ver-rückten Praxis der Befreiung. Der Jesus des Matthäusevangeliums leistet seinen Beitrag zu dieser Erneuerung, die auch Erfüllung der Tora genannt wird, wenn er in der Bergpredigt mit Bezug auf die Zehn Gebote sagt: «Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt worden ist … Ich aber sage euch …» (Mt 5,21). Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt sachgerecht: «Ich lege euch das heute so aus …».
Der Dekalog ist in der Kirche zu einem zentralen Text geworden. Das geschah in der Zeit der Kirchenväter ab dem Ende des 2. Jahrhunderts und ist – Gott sei’s geklagt – verbunden mit Antijudaismus. Die Zehn Gebote wurden als direkt von Gott und mit der Natur gegebenes Grundgesetz verstanden. Sie wurden so dem Judentum enteignet und aus dem Kontext der Tora herausgelöst. Diese christliche Aneignung führte dazu, dass der Dekalog in der rabbinischen Tradition in den Hintergrund trat. Der babylonische Talmud spricht davon, dass die Lesung und Auslegung des Zehnwortes «wegen der Rederei der Minäer», d. h. wegen der Christen, aufgegeben wurde (bBerakhot 12a).
In der Tora gibt es neben dem Zehnwort eine Vielfalt von Weisungen in verschiedenen Sammlungen: das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33), die Erneuerung des Bundes ab Ex 34, das Heiligtumsgesetz (Lev 19). Jede dieser Gesetzessammlungen ist über einen längeren Zeitraum gewachsen, jede steht zum Teil sachlich im Widerspruch zu anderen, jede ist wiederum in sich vielfältig, was Themen und Sprache angeht. Auch die Kanonbildung arbeitet die verschiedenen Sammlungen nicht ineinander und harmonisiert sie nicht. Die Tora ist geprägt von der «spannungsvollen Einheit der Verschiedenheit» (Frank Crüsemann). Auch den Dekalog gibt es zweifach in der Tora, in Ex 20 und in Dtn 5 – ein verdichteter Ausdruck dieser spannungsvollen Einheit in Verschiedenheit. In beiden Texten spielt das Schabbatwort eine besondere Rolle. Der Schabbat ist das wöchentliche Zeichen der Freiheit. Er ist Unterbrechung der alltäglichen, d. h. der gewohnten Notwendigkeiten. Das Schabbatwort ruft den Menschen auf, damit aufzuhören und etwas Anderem Zeit und Raum zu geben. Er ist ver-rückte Zeit. Schabbat dient der Heiligung der Zeit, der Erfahrung ihres Geschenktseins, ihrer Unverfügbarkeit. Er entzieht einen Tag der Woche der Verfügungsgewalt der Menschen. Die arbeitsfreie Zeit gilt allen, auch denen, die der Macht anderer unterworfen sind, der Sklavin und dem Sklaven, dem Vieh und den Fremden in der Stadt. Am Schabbat sind alle gleichwertig. Der Schabbat ist Protest und Widerstand gegen alle Herrschaft. Entsprechend war er der herrschenden Klasse im römischen Reich verdächtig. Zwar war durch die Anerkennung der jüdischen Religion auch der Schabbat von den Behörden akzeptiert worden. Der Philosoph Seneca, der Erzieher des Kaisers Nero, aber spottete: «Der Jude verliert am Sabbat einen siebten Teil seines Lebens.» Hinter dem Spott sind Ärger und Angst spürbar, die gesteigert wurden, weil der Schabbat auch bei Nichtjuden immer mehr an Attraktivität gewann: «Die Sitten dieses verfluchten Volkes sind sehr einflussreich geworden und werden jetzt überall befolgt; die Besiegten haben den Siegern ihre Gesetze auferlegt.»2 Der Schabbat wurde zum Zeichen, dass dem Imperium Grenzen gesetzt sind. Das Zeichen möglicher und kommender Freiheit ist zugleich auch der Zeitraum, in dem sich das Leben in Freiheit hier und jetzt erfahren und in Gemeinschaft einüben lässt. Der Heiligung der unverfügbaren herrschaftsfreien Zeit folgt in der Tora die Heiligung des Raumes. Ex 25–31 geben Weisung zur Gestaltung des Zeltes der Begegnung und Offenbarung, der Wohnstätte Gottes unter den Menschen – wie der Tempel.

Mit der Kirche lesen

Jesus kämpft um diesen Tempel, um den geheiligten Raum. Seine Jüngerinnen und Jünger erinnert sein Verhalten an ein Psalmwort (69,10). Psalm 69 ist die Klage eines Menschen, der Schmach und Spott erleidet für die Art und Weise, wie er seine Beziehung zu Gott gestaltet. Gut möglich, dass dieser Spott dem Spott Senecas über die jüdische Schabbatpraxis gleicht. Es ist der Spott der Herrschenden, die um ihre Macht fürchten. Sie wird in Frage gestellt durch heilige, d. h. unverfügbare Zeiten und Räume. Jesus kämpft um den heiligen Raum des Tempels. Er tut dies als das Paschafest, das Fest der Befreiung aus Unterdrückung, nahe ist. Jesus steht in der Befreiungsgeschichte seines Volkes. Das Johannesevangelium weiss um die Not-wendigkeit von heiligen Räumen. Es erkennt – nachdem der Tempel in Jerusalem zerstört wurde, den geheiligten Raum im Tempel des menschlichen Leibes. Er ist wie der Schabbat unverfügbar und der Herrschaft von Menschen entzogen. Das gilt es zu erinnern und zu verkünden, gerade wenn Menschen Opfer von Gewalt werden. Das ist das Wort, die immer wieder neu zu erzählende ver-rückte Geschichte der Heiligen Schrift.

1 Rochus Zuurmond: Die Zehn Gebote. Textelemente und Beobachtungen zur Auslegungsgeschichte in: Bibel und Befreiung. Freiburg (Schweiz) 1985, 69. Ich folge hier dieser Auslegung.
2 Zitate nach ebd., 76.