Wir beraten

Sorgsam gepflegte Vorurteile   

Dieter Bauer zur Lesung am 6. Sonntag im Jahreskreis SKZ 6/2009

Alttestamentliche Lesung: Lev 13,1–2.43ac.44ab.45–46
Evangelium: Mk 1,40–45

Nichts pflegen Menschen so liebevoll – vom eigenen Vorgarten vielleicht einmal abgesehen – wie ihre Vorurteile. Und zu den unausrottbaren Vorurteilen der Christen gehört nun einmal das von der jüdischen «Gesetzesreligion», die Jesus aufgehoben habe. Leider ist die heutige Perikopenzusammenstellung zusätzlich geeignet, dieses unverantwortliche Vorurteil auch noch zu fördern: Die alttestamentliche Lesung steht im Mess-Lektionar unter der deutenden Überschrift: «Der Aussätzige soll abgesondert wohnen, ausserhalb des Lagers» und tut so, «als wäre dies der typisch jüdische Umgang mit Aussätzigen. Das radikal Neue an Jesus soll dann das Evangelium zeigen: Jesus geht auf diese Ausgesonderten zu, heilt sie und integriert sie wieder in die Gemeinschaft, von der sie ausgestossen waren» (Erich Zenger).

Mit Israel lesen

Es ist schlicht eine traurige Tatsache, und ich nehme mich da als Theologen nicht einmal aus, dass wir Christen vom Judentum keine Ahnung haben. 2000 Jahre getrennter Geschichte, dazu noch zum grossen Teil von massiven Abgrenzungsbestrebungen (von beiden Seiten!) geprägt, haben ihre Spuren hinterlassen. Und ist schon das so genannte «Alte Testament» für die meisten ein «Buch mit sieben Siegeln», so das Buch Levitikus in besonderem Masse. Da reicht es in einer Perikopenordnung auch nicht, einmal im Jahr einen Text aus dem Buch Levitikus vorzusehen, und den noch total zerstückelt.

Wohlgemerkt: Das Buch Levitikus gehört zur Tora! Und nicht nur das: Es steht im Zentrum der Tora! Jüdische Kinder lernen mit dem Buch Levitikus das Lesen! Das müsste uns doch zumindest stutzig machen in unserer Ablehnung dieses Buches voller priesterlicher Kultvorschriften, das wir als Christen nicht verstehen.

Versuchen wir doch einfach einmal, diesen einen Abschnitt aus dem Buch Levitikus genauer anzuschauen. Zunächst einmal: Auch wenn es immer wieder rationalisierend so ausgelegt worden ist, es geht nicht um medizinische Vorsorge und Quarantäne! Es geht um «Heiligkeit»! In diesem Abschnitt, der meist mit «Aussatz» überschrieben ist, werden zwar Symptome von Hautkrankheiten benannt. Um Lepra aber, wie meist gemutmasst wird, kann es nicht gehen, weil diese Krankheit erst durch Alexander den Grossen in den Vorderen Orient eingeführt wurde. So ist der entscheidende Punkt für das «Aussetzen» auch nicht etwa eine Ansteckungsgefahr, sondern die «Unreinheit» des Betroffenen. Bei allen genannten Vorschriften geht es um «Unregelmässigkeiten» auf der Haut. Ginge es um Krankheit, wäre es z. B. total sinnlos, warum eine vom «Aussatz» total weiss gewordene Haut für «rein» erklärt wird (Lev 13,12 f.). Und es macht auch keinen Sinn, dass «Aussatz» auch an Kleidern und Häusern auftreten kann (Lev 13,47–59; 14,33–54). Was aber meint dann «Heiligkeit» und «Reinheit»?

Typisch für das priesterliche Denken des Buches Levitikus ist der Wille zum Erhalt der «Heiligkeit» des ganzen Volkes, die ihm am Sinai zugesprochen wurde (Ex 19,6). Der «Schaden des Aussatzes» (Lev 13,2 u. ö.) wird als Ergebnis «göttlicher Missgunst» gesehen; Aussatz ist ein «Schlag Gottes» (hebr. nega) eine «Plage», die JHWH schickt. Und die Geschichten, die davon erzählen, dass jemand mit Aussatz geschlagen wurde, werden immer mit einer Auflehnung gegen JHWH begründet: Mose traut dem Auftrag Gottes nicht, so dass seine Hand aussätzig wird (Ex 4,6 ff.); Mirjam lehnt sich gegen die göttlich verfügte Führung des Mose auf und wird mit Aussatz geschlagen (Num 12,10 ff.), und Gehasi, der Diener des Elischa, wird deshalb mit Aussatz bestraft, weil er das Wirken Gottes an dem aussätzigen Syrer Naaman seinem Lehrer Elischa zugeschrieben hatte und auch noch den Lohn dafür erschleichen wollte (2 Kön 5,20 ff.).

Nun war aber auch schon innerhalb des Judentums klar, dass die einfache Rechnung, dass jeder Aussätzige sich irgendetwas gegenüber Gott zuschulden kommen lassen hatte, nicht so einfach funktionierte. Die Rabbinen spekulierten deshalb darüber, ob der Schlüssel vielleicht in dem Wort «aussätzig» (hebr. mezora) liegen könne, und stellten fest, dass es so ähnlich klinge wie «Verleumdung» (mozi ra; wörtlich: «der Böses aufbringt»). «Verleumdung» ist nun aber wirklich etwas, das die Gemeinschaft hochgradig gefährdet. Sie ist geradezu «tödlich». Und so werden «Aussätzige» auch wie «Tote» behandelt und müssen die entsprechenden Trauerriten vollziehen (Lev 13,45 f.). Auch ihre Wiederaufnahme in die Gemeinschaft wird durch Riten begleitet (Lev 14), die mit den Reinigungsriten nahezu identisch sind, die nach der Berührung mit Toten vorgeschrieben werden (Num 19,11–21). Dass zur Sühne von dem ehemals Aussätzigen ein Vogel geopfert werden soll (Lev 14,4 ff.) begründen die Rabbinen damit, dass er «wie ein Schnatterer gehandelt hat und daher Schnatternde als Opfer bringen soll» (bAr 16b). «Sie wollten nicht eine bestimmte physische Krankheit, wie die Schuppenflechte, moralisch stigmatisieren und den Kranken auch noch die Schuld an ihren Leiden zuweisen, sondern auf die Gefährlichkeit einer moralischen Krankheit hinweisen. Sie verbreitet sich in der Tat wie eine Seuche und bringt jeden um, der damit in Berührung kommt, ‹sie tötet›, sagt der Talmud, ‹den Erzähler, den Zuhörer und den Betroffenen› (bAr 15b). Zwar scheint uns der Klatsch so harmlos wie Gänsegeschnatter zu sein, doch in Wahrheit ist er die Vorstufe zur gesellschaftlichen Ächtung und zum sozialen Tod. Weil alle den Klatsch fürchten, kann sich ihm keiner entziehen, jeder muss sich an ihm beteiligen, um die bösen Zungen der anderen im Zaum zu halten; jeder ist Täter und Opfer, Jäger und Gejagter, normal und aussätzig zugleich» (Daniel Krochmalnik).

Mit der Kirche lesen

Wenn wir nun zum Evangelium (Mk 1,41–45) übergehen – und es genau lesen! – so stellen wir überrascht fest, dass uns hier gar kein Jesus begegnet, der Widerstand leistet gegen ein gesetzliches Judentum seiner Zeit, sondern genau das Gegenteil: Er heilt den Aussätzigen, wie dies auch sonst von den Propheten Israels erzählt wird (z. B. Elischa; 2 Kön 5,1–27). Und dann schaut er, dass die Heilung auf die vom Gesetz vorgeschriebene Art und Weise von den Priestern bestätigt wird. Das Reinigungsopfer soll die Wiederaufnahme des nunmehr Gesundeten in die Gemeinschaft ermöglichen. Jesus orientiert sich dabei ganz bewusst an den Vorschriften des Buches Levitikus, das bei uns Christen in so schlechtem Ruf steht, und möchte sich dadurch als «gesetzestreu» (Mk 1,44) erweisen. Wie blind muss man eigentlich sein, um immer noch einen Gegensatz zwischen Jesus und dem jüdischen Gesetz herauszulesen?

Literaturtipp: Daniel Krochmalnik: Die Bücher Levitikus, Numeri, Deuteronomium im Judentum (Neuer Stuttgarter Kommentar – AT 33/5). Stuttgart 2003.