Wir beraten

Das Ende der Täuschung   

Peter Zürn zur Lesung am 5. Sonntag im Jahreskreis SKZ 5/2009

Alttestamentliche Lesung: Ijob 7,1–7
Evangelium: Mk 1,29–39

Wenn wir enttäuscht werden, fühlen wir uns schnell einmal betrogen. Aber was ist, wenn eine Enttäuschung bedeutet, dass wir uns vorher getäuscht haben?

Mit Israel lesen

Das Leben ist mühsam. Ijob spricht im ersten Vers des Lesungstextes aus, was wohl «jedem Menschen, der ein gewisses Alter erreicht und seine Selbstwahrnehmung nicht völlig verloren hat»,1 vertraut ist. Vers 2 aber differenziert: Es ist nicht die anstrengende Arbeit, die das Leben beklagenswert macht, sondern die enttäuschte Erwartung auf einen Lohn für all die Mühen. Der bleibt aus und so «werden Monde voll Enttäuschung mein Erbe». Das hebräische Wort schaw, das die Einheitsübersetzung mit Ent-täuschung übersetzt, kann Nichtiges und Gehaltloses bedeuten (z. B. in Jer 18,15). Im Dekalog heisst es: «Du sollst den Namen JHWHs, deines Gottes, nicht zu jemandes Schaden (schaw) aussprechen» (Ex 20,7; Dtn 5,11), d. h. nicht in betrügerischer Absicht. Ijob fühlt sich also betrogen und ist enttäuscht. Eine Enttäuschung ist das Ende einer Täuschung. Worin hatte er sich bis dahin getäuscht? Er hat Glück erfahren, es ist ihm entschwunden, er beklagt, dass es niemals mehr kommen wird (7,7). Hatte er bleibendes Glück erwartet? Im 29. Kapitel blickt Ijob auf sein früheres Leben zurück – «als meine Schritte sich in Milch gebadet, Bäche von Öl der Fels mir ergoss» (29,6). Die Erfahrung von vollkommenem Glück ruft den Glauben hervor, dass es immer so weitergehen würde (29,18). Das erweist sich als Täuschung. Und Gott bestätigt ihm das. Er fordert von ihm einen realistischeren Blick auf das Leben. «Es gibt chaotische Mächte, die sich menschlichem Zweck und Zugriff entziehen, und es gibt in Gestalt von Nilpferd und Krokodil das von Menschen nicht zu bezwingende Böse in der Welt.»2 Gott bestätigt Ijobs Leiden am Leben. Er tröstet, aber nicht indem er vom Unheil abzulenken versucht. Stattdessen will er Ijob darüber hinaus führen, zur Erkenntnis und zum Vertrauen, dass die Chaos mächte nicht alles vermögen, auch wenn es zuweilen so aussieht, sondern dass auch sie sie von göttlicher Macht umfangen sind. Diese Erkenntnis ist nicht vom Hörensagen her zu haben, sie ist kein rein intellektuelles oder theologisches Problem. Daran scheitern die gutgemeinten Erklärungsversuche der Freunde Ijobs. Religiöse und theologische Rede ist kein Selbstzweck. Sie will und muss über sich hinaus führen, hinein in die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes. Ijob geht den Weg in diese Erfahrung. Er nennt sie «Gott schauen». «Vom Hörensagen nur hatte ich dich vernommen, jetzt aber hat mein Auge dich geschaut» (42,5). Ijob ist in Kontakt, in Berührung, in Beziehung mit dem göttlichen Geheimnis des Lebens gekommen.

Die Schau Gottes ist jedoch kein ewig anhaltender Zustand. Das Leben geht weiter, aber es geht anders weiter. Das Buch Ijob erzählt davon, dass sich das veränderte Innere Ijobs, seine neue Beziehung zum Leben auch äusserlich ausdrückt. «So wendete Gott das Geschick Ijobs … und Gott mehrte den Besitz Ijobs auf das Doppelte» (42,10). Ijobs innere Bezogenheit zu Gott bringt ihn auch äusserlich wieder in Beziehung, die Schau Gottes führt nicht zu esoterischer Absonderung. Ijobs sozialer Tod (vgl.19,13 ff .) wird aufgehoben. Seine Verwandten kommen zu ihm und essen mit ihm (42,11). Sie sind nicht hoch genug zu preisen, weil sie Ijob bei diesem Mahl «trösten wegen all des Unglücks, das Gott über Ijob gebracht hatte». Das Leid wird, auch wenn es überwunden ist, nicht vergessen. Ijob bleibt ein vom Leben Gezeichneter. «Wenn Gott unter den Menschen wohnt, wird nicht so getan, als hätten wir nicht geweint, sondern «Gott der Herr, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht».3 Alles andere wäre eine Täuschung.

Auch nach der Lektüre des Buches Ijob geht das Leben nicht auf, werden wir weiterhin in unseren Hoffnungen und Sehnsüchten enttäuscht. Der Talmud erzählt von dieser Erfahrung in der Geschichte von Mose und Rabbi Akiva. Mose wird beim Empfang der Tora auf dem Berg Sinai von Gott in die Zukunft versetzt und nimmt im Lehrhaus des Rabbi Akiva an dessen Unterricht teil. Er ist überwältigt von Akivas Gelehrsamkeit und Frömmigkeit und bittet Gott, ihm das weitere Schicksal des Gottesfürchtigen zu zeigen. Akiva lebte unter römischer Herrschaft. Weil er trotz Verbot weiterhin die Tora lehrte, wurde ihm die Haut vom Leib gezogen, dann wurde er – in eine Torarolle gewickelt – verbrannt und schliesslich verkaufte man, als letzte Herabwürdigung, sein von den Knochen abgetrenntes Fleisch auf dem Markt (Ijob 7,5, der leibhaftige Vers, den die Leseordnung weglässt, meldet sich wieder). Angesichts dieses schrecklichen Anblicks schreit Mose, völlig ausser sich, zu Gott: «Das ist der Lohn der Tora!» Und Gott lässt Mose und uns verstört stehen mit dem Satz: «Schweig! So ist es mir in den Sinn gekommen» (b. Menahot 29b).

Der jüdische Schriftsteller Jonathan Rosen deutet mit dieser Geschichte sein eigenes Leben. Seine Grosseltern väterlicherseits wurden von den Nazis ermordet. Er selbst wuchs in den USA in Wohlstand und gesicherten Verhältnissen auf. Seine österreichische und seine amerikanische Grossmutter personifizieren zwei konkurrenzierende Wirklichkeiten. «Mein Leben wird, so nehme ich an, immer mit ihrem so gegensätzlichen Leben und Sterben verknüpft sein.»4 Die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Lebens lassen sich nicht auflösen. Darin sieht Rosen ein wesentliches Merkmal des jüdischen Denkens und Glaubens, wie es sich im Talmud niedergeschlagen hat. Seine beiden Grossmütter sind «wie zwei einander bekämpfende Schulen talmudischen Denkens, niemals stillschweigend und niemals der anderen den Sieg überlassend».5 Es ist sinnlos, nach einer einzigen harmonisierenden Formel für das Leben zu suchen. Der Talmud macht aus der Ambivalenz eine Tugend und die Ungewissheit zu einer grundlegenden Glaubens äusserung. Besser mit Widersprüchen leben als sich im Leben zu täuschen.

Mit der Kirche lesen

«Die Grundfrage des Alten Testamentes lautet nicht: «Gibt es ein Leben nach dem Tod?», sondern: «Gibt es ein Leben vor dem Tod?»6 Es ist auch die Grundfrage des Neuen Testamentes. Und beider Antwort ist: Ja! Das Markusevangelium (1,29–39) erzählt in geraffter Form und beinahe atemlos von Heilung und Auferstehung. Der Text brummt geradezu von der Fülle der Begegnungen und Beziehungen. Markus bleibt aber realistisch und spricht von der Heilung «vieler» (1,34). Erst Matthäus und Lukas machen daraus alle. Markus erzählt auch von der wesentlichen und unauflösbaren Spannung zwischen actio und contemplatio, wenn Jesus sich nach den Heilungen an einen einsamen Ort zurückzieht, um zu beten. Das Markusevangelium, das mit diesen Auferstehungserzählungen beginnt und in Schrecken und Verstummen endet (16,8), stimmt mit dem Talmud darin überein, dass sich die Widersprüchlichkeiten und Grausamkeiten des Lebens nicht einfach durch eine harmonisierende Formel aus der Welt schaff en lassen. Das wäre eine fatale Täuschung.

1 Ludger Schwienhorst-Schönberger: Ein Weg durch das Leid. Das Buch Ijob. Freiburg i. Br. 2007, 47. Ich folge hier weitgehend seiner Auslegung.
2 Ebd., 260, mit Bezug zu Ijob 40–41.
3 Ebd., 272.
4 Jonathan Rosen: Talmud und Internet. Eine Geschichte von zwei Welten. Frankfurt a.M. 2002, 54 f.
5 Ebd.
6 Schwienhorst-Schönberger (wie Anm. 1), 273.