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Spricht Gott zu Ihnen? Nein? Das ist ein gutes Zeichen   

Peter Zürn zur Lesung am 2. Sonntag im Jahreskreis SKZ 1-2/2009

Alttestamentliche Lesung: 1 Sam 3,3b–10.19
Evangelium: Joh 1,35–42

Das Jahr ist noch ganz jung und liegt off en vor uns. Was werden wir in diesem Jahr wohl alles zu sehen und zu hören bekommen? Werden wir etwas hören, wovon uns die Ohren gellen? Werden wir etwas sehen, das uns in Bewegung und in Beziehung bringt? Wird uns in diesem Jahr jemand wirklich sehen und mit Namen ansprechen?

Mit Israel lesen

In 1 Sam 3 spielen Sehen und Hören eine zentrale Rolle. Die Fähigkeit zu sehen ist stark eingeschränkt, nicht nur bei den handelnden Personen: «In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten; Visionen waren nicht häufig» (3,1). Vom Priester Eli heisst es: «Seine Augen waren schwach geworden, und er konnte nicht mehr sehen» (3,2). Dazu passend spielt die Geschichte weitgehend in der Nacht, im dunklen Tempel von Schilo, in dem nur die Lampe Gottes, eine Art ewiges Licht, brennt. Entsprechend wichtig ist das gesprochene Wort und der Hörsinn. Viermal ruft Gott den Samuel und nennt ihn beim Namen. Im Gespräch mit Eli erfährt Samuel, wie er auf diesen Ruf reagieren soll: Er soll sich als Hörender vorstellen (3,9 und 10). Aber die Fähigkeit zu hören ist eine zwiespältige Gabe. Samuel hört Gott dreimal, kann das Gehörte aber nicht richtig zuordnen. Das gelingt erst Eli, der selbst keine Gottesstimme vernimmt. Und schliesslich kündigt Gottes Botschaft an Samuel Geschehnisse an, von denen allen, die davon hören, beide Ohren gellen werden (3,11). Leider lässt die Leseordnung den Inhalt dieser Botschaft komplett weg (3,11–14). Will sie unsere Ohren schützen? Das Ausblenden und Verschweigen der Botschaft Gottes bringt allerdings einen wichtigen Aspekt des Textes zum Ausdruck: Das Schweigen spricht gleichsam Bände. Denn auch Samuel fürchtet sich davor, Eli von dem zu berichten, was er gehört hat. Samuel zieht sich sozusagen die Decke über den Kopf, bleibt so lange wie möglich im Bett liegen und reagiert äusserst einsilbig auf Eli: «Hier bin ich.» Eli muss ihn mehrmals bedrängen. Dann erst «teilte ihm Samuel alle Worte mit und verheimlichte ihm nichts» (3,18). Warum die Doppelung von Mitteilen und nichts Verheimlichen? Bringt die ausdrückliche Erwähnung des Verheimlichens zum Ausdruck, mit welcher Versuchung Samuel gerungen hat?

Die Botschaft Gottes in 3,12–14 spricht von der Schuld des Hauses Eli. Was damit gemeint ist, steht in 1 Sam 2,12–17.22– 25. Den beiden Söhnen Elis, Hofni und Pinhas, die wie ihr Vater als Priester im Tempel amtieren (1 Sam 1,3), wird vorgeworfen, dass sie beim Schlachtopfer betrügen und mit Frauen vor dem Offenbarungszelt sexuell verkehren. 2,12 bezeichnet sie als «nichtsnutzig» (Einheitsübersetzung). Die Bibel in gerechter Sprache nennt sie «skrupellos» und kommt so dem hebräischen Ausdruck näher, der Schlechtigkeit, Bosheit, Verderbtheit bedeutet. Gott nennt nicht nur Samuel beim Namen, sondern auch das Unrecht. Eli weiss um die Vergehen seiner Söhne, stellt sie gar zur Rede, jedoch ohne Erfolg. Das hat Folgen: 1 Sam 2 und 3 begründen und legitimieren die Ablösung der führenden Priesterdynastie der Eliden (s. u.).

In Samuel und Eli sind darüber hinaus zwei wesentliche Instanzen des religiösen Lebens in Israel personifiziert: Prophetie und Priestertum. Der Text thematisiert ihr spannungsvolles Mit- und Gegeneinander. Der Prophet hört den Ruf Gott, der Priester kann das Gehörte, das er aus zweiter Hand erfährt, einordnen und Ratschläge zum Handeln und eine entsprechende Haltung dazu entwickeln. Im Neuen Testament klingt das in der Zuordnung verschiedener Charismen in der Gemeinde an (1 Kor 12,10).

Liest man den Text so, dann fällt wiederum ein beredtes Schweigen auf. Keine Rede ist von der dritten Grösse im Spannungsfeld religiöser Instanzen, der Tora. Sie hat sich ja langfristig als Entscheidende durchgesetzt. Die Priesterschaft ist mit dem zweiten Tempel untergegangen. Die Prophetie wurde der Tora nach- und untergeordnet. Die Rabbinen strukturierten die Tora-Auslegung als argumentativen Diskurs zwischen Gelehrten, bei dem ein direktes Eingreifen Gottes (mittels einer Botschaft an einen Propheten oder durch ein Wunder) keine Rolle spielt. Die bekannte Geschichte aus dem Talmud (b. Baba Mezi’a 59b) zeigt dies: Bei einem Streit stand die Meinung Rabbi Eliesers gegen die der anderen Rabbiner. R. Elieser rief nacheinander einen Baum, das Wasser eines Kanals und die Wände des Lehrhauses zu Hilfe. Der Baum veränderte seinen Standort, das Wasser floss rückwärts und die Wände begannen einzustürzen. Aber R. Josua sprach ihnen die Kompetenz in Fragen der Gesetzesauslegung ab. R. Elieser rief schliesslich Gott selbst zu Hilfe und eine Stimme aus dem Himmel sprach zu seinen Gunsten. Aber R. Josua entgegnete mit einem Zitat aus Dtn 30,12: «Sie (die Tora) ist nicht im Himmel!» Die Tora ist am Sinai geoffenbart und den Menschen zur Auslegung gegeben. Himmelsstimmen sind kein Argument. Ein moderner Text bringt Ähnliches zum Ausdruck. Im Roman «Kabbala» von Lawrence Kushner kommt eine junge Frau zu Rabbi Stern. «Sie möchten also gerne Rabbinerin werden?» fragt er sie und fügt hinzu: «Redet Gott mit ihnen?» – «Nicht dass ich wüsste», antwortet sie. Darauf der Rabbi: «Na, das ist ein gutes Zeichen.»1

Mit der Kirche lesen

Auch im Evangelium spielen Sehen und Hören eine zentrale Rolle. Als Jesus vorübergeht, richtet Johannes seinen Blick auf ihn. Seine beiden Jünger hören, was er sagt. Jesus sieht, dass sie ihm folgen und lädt sie ein: «Kommt und seht.» Sie sehen wo er wohnt und bleiben. Als der eine von ihnen, Andreas, seinen Bruder Simon zu Jesus führt, blickt der ihn an, nennt ihn beim Namen und gibt ihm einen Neuen. Alle sehen und hören klar und deutlich. Sie verstehen und handeln entsprechend. Alle Störungen der Wahrnehmung und der Kommunikation, wie sie in 1 Sam 3 beschrieben werden, sind verschwunden. In der Namensgebung durch Jesus klingt die Paradieserzählung an. Gott führt dem Menschen die Tiere zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. «Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heissen» (Gen 2,19). Das Johannesevangelium erzählt eine Geschichte wie am Schöpfungsmorgen. Alle Sinne sind weit off en, Beziehungen einzugehen ist die einfachste Sache der Welt, die Welt ist ganz neu und noch unbenannt. Der Mensch ist daheim. Kommt und seht, wo er wohnt.

Vom Haus Eli zum Haus Zadok

Das Unheil, das dem Haus Eli droht, wurde bereits vor Samuel durch einen anonymen Gottesmann angekündigt (1 Sam 2,27–36). Die Heilszusage für das Haus Eli als priesterliche Nachfahren Aarons wird zurückgenommen und das (gewaltsame) Aussterben der Familie angedroht, was in 1 Sam 4,11 und 4,18 auch eintritt. Darüber hinaus wird ein neues Priestergeschlecht eingesetzt werden, womit schon hier die Erzählungen über das Wirken und die Bedeutung Zadoks und seiner Nachkommen anklingen (vgl. 2 Sam; 1 Kön). Die Rede Gottes zu Samuel ist eine Art Zusammenfassung der früheren Ankündigung und stellt besonders die Mitverantwortung Elis heraus.


1 Lawrence Kushner: Kabbala. Ein Liebesroman. München-Zürich 2006, 9.