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«Fürchte dich nicht!» – Kein Familienidyll   

André Flury-Schölch zur Lesung am Fest der Heiligen Familie SKZ 51-52/2008

Alttestamentliche Lesung: Gen 15,1–6; 21,1–3
Evangelium: Lk 2,22–40 oder 2,22.39–40

Wenn von der Nachkommens-Verheissung in Gen 15,4 f. direkt zu der erst sechs Kapitel später beschriebenen Erfüllung «gesprungen» wird, kann leicht der Eindruck entstehen, die Erzählung von Abraham und Sarah folge dem einfachen Schema: Verheissung – Glaube – Erfüllung. Doch wie viel Angst und Verrat gehen der Verheissung voraus! Wie viel Verzagen und Verzweiflung folgen ihr noch! Was alles müssen Abraham und Sarah durchstehen, um schliesslich in «Isaak» ein von Gott geschenktes «Lachen» zu erkennen (Gen 21,6). Was alles müssen Hagar und Ismael erkämpfen und erleiden. Die Erzeltern-Erzählungen der Genesis sind alles andere als eine Familienidylle. Sie zeugen vielmehr von einem Gott, der die Menschen in ihren verschiedenen Sozialgefügen und Rollen (Familien, Sippen; Sklavin, Herrin usw.) auch und gerade dann begleitet, wenn diese gefährdet oder zerbrochen sind.

Mit Israel lesen

Gen 15,6 ist die einzige Stelle im AT, die von Abra(ha)m aussagt, dass er Gott «glaubt» (vgl. die grosse Wirkungsgeschichte mit Gal 3,6; Röm 4,3.9; Hebr 11,11 f.). Doch vor und nach diesem Vertrauen stehen zahlreiche Zweifel: Bereits in der grossen Berufungs-Verheissung wurden dem Abraham u. a. ein «grosses Volk», Schutz und «Segen» (vgl. Gen 12,1–3) sowie das «Land» Kanaan (12,7) zugesagt. Aber schon bei der ersten Schwierigkeit, einer Hungersnot, zieht Abraham wieder weg nach Ägypten: Aufgrund seiner Angst vor den Ägyptern verrät Abraham seine Frau Sarah, indem er sie als Schwester ausgibt (12,19) und sie damit dem Pharao «verkauft» (12,16). Von Gott jedoch wird Sarah gleichermassen gerettet wie später das ganze Volk (Gen 12,17 / Ex 11,1).

Zurück im Land gerät Abraham aufgrund seines Verwandten Lot in Schwierigkeiten: Den Hirtenstreit kann Abraham zwar durch Nachgiebigkeit friedlich beilegen (13,1–18), doch gleich darauf muss er sich, um Lot zu befreien, in kriegerische Auseinandersetzungen stürzen (Gen 14,1–16). Aber weder dieser Sieg noch Melchisedeks Segen (14,17–24) vermögen Abrahams Sorge zu lindern: «Mein Herr, JHWH, was willst du mir schon geben? Ich gehe doch kinderlos dahin, und Erbe meines Hauses ist Eliëser aus Damaskus» (15,2). Wie viel Schmerz und Trauer, Vorwurf und Verzweiflung liegen in diesen Worten Abrahams! Zwar glaubt Abraham der erneuten Verheissung Gottes (15,4–6), und Gott verheisst ihm wiederum Land und schliesst mit ihm einen Bund (15,7–21). Doch nach «zehn Jahren im Land Kanaan» scheint das Vertrauen aufgebraucht, und Sarah greift in die Geschichte ein, indem sie Abraham ihre ägyptische Sklavin Hagar zur Frau gibt: Diese soll für Sarah einen Sohn gebären (16,1–4). Kaum schwanger gerät Hagar jedoch in Konkurrenz zu Sarah: Hagar flüchtet, gründet wohl ein Brunnenheiligtum – und muss wieder zurückkehren, um Abraham den Ismael zu gebären (16,5–16).

Doch Gott verheisst Abraham weitere Nachkommenschaft, einen Sohn von Sarah (Gen 17). Wie menschlich reagiert Abraham auf diese Verheissung: «Da fi el Abraham nieder auf sein Angesicht und lachte…» (17,17). Seine schiere Angst bringt Abraham gegenüber Gott in der Bitte zum Ausdruck: «Wenn nur Ismael vor dir am Leben bleibt!» (17,18). Von Glaube/Vertrauen keine Spur mehr. Und so erscheint Gott nochmals, um Abraham einen Sohn zu verheissen, doch diesmal ist es Sarah, die «in ihrem Innern lacht» (18,12). Die Geschichte wiederholt sich: Abraham verrät und verkauft seine Frau Sarah nochmals als «Schwester», und nochmals wird Sarah von Gott gerettet (20,1–18).

Erst nach all diesen Irrungen und Wirrungen, nach Zweifel und Verrat wird die Geburt des Isaaks erzählt (21,1–8): «Ein Lachen hat mir Gott bereitet» (21,6), frohlockt Sarah – und sorgt vier Verse später dafür, dass Hagar und ihr mit Abraham gezeugter Sohn Ismael vertrieben werden (21,9 ff .): Er soll nicht zusammen mit Isaak Erbe werden! Dass Gott Abraham daraufhin auf «die Probe» stellt und von ihm verlangt, Isaak als Brandopfer darzubringen (22,1–19), kann als eine Folge des Verrats an Hagar und Ismael – und zuvor schon an Sarah – gelesen werden: Wie Ismael «geopfert» wird, so wird nun von Abraham verlangt, am «eigenen Leib», d. h. im Sohn, seinem einzigen, den er liebt (22,2), erfahren zu müssen, was es heisst verraten, verkauft und um die Verheissungen betrogen zu sein. Erst in diese «eigene» Erfahrung der Gottesfinsternis hinein tönt der erlösende Ruf des Engels JHWHs (22,11 f.).

Mit der Kirche lesen

Auch die Menschwerdung Gottes vollzieht sich nicht in eine idyllische Familiensituation hinein (natürlich sind auch die neutestamentlichen Geburtserzählungen usw. keine historischen Berichte, sondern theologische Deutungen der Bedeutung Jesu Christi): Zwar gibt es bei Lk keine Notiz, dass Josef – als «Gerechter» – die unehelich schwangere Maria zu «entlassen» gedenkt (so Mt 1,19 f.). Die Gerechtigkeit der Eltern Jesu zeigt sich bei Lk vielmehr darin, dass sie als gesetzestreue Juden alles tun, was gemäss der Torah Gottes Wille ist: Beschneidung Jesu am achten Tag (Lk 2,39; Gen 17,11 f.; Lev 12,3); die rituelle Reinigung der Wöchnerin Maria, 40 Tage nach der Geburt eines männlichen Nachkommens (Lk 2,22; Lev 12,2–4) – hierauf bezieht sich auch das Opfer in Lk 2,24 (Lev 12,8); die «Weihung» / «Heiligung» / «Darstellung» Jesu bzw. aller Erstgeborenen Israels (Lk 2,22 f.; Ex 13,2.12.15; 22,28 f.).

Doch auch bei Lk wird gleich zu Beginn angedeutet, welche Schwierigkeiten auf Jesus und die Seinen zukommen: Der Hymnus des Simeon – voller «Frieden», «Heil» und «Licht» (Lk 2,29–32) – wird ergänzt durch Simeons Worte an Maria, die Jesus bereits mit einem «Zeichen, dem widersprochen wird», vergleichen sowie Maria ankündigen, dass durch ihre Seele ein Schwert dringen werde (2,35). Die auf Lk 2,22–39 folgende Perikope vom 12-jährigen Jesus im Tempel thematisiert ein erstes Mal das Unverständnis der Eltern gegenüber Jesus (Lk 2,40–50). Josef erscheint hier zudem zum letzten Mal bei Lk (analog Mt 2): Wo war Josef, als die Geschwister Jesu und Maria Jesus aufsuchten und meinten, er sei «von Sinnen» (Mk 3,21.31)? Wo war Josef, als Jesus gelitten hatte und ans Kreuz geschlagen wurde? Die Evangelien berichten nichts davon. Unverständnis und Ablehnung erntete Jesus in seinem Heimatdorf Nazareth zudem gerade aufgrund seiner Eltern und Geschwister, indem die Leute sagen: «Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria, der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon, und leben nicht seine Schwestern hier bei uns? Und sie nahmen Anstoss an ihm» (Mk 6,3). Familienidyll? Keine Spur davon!

Das Grosse an der Geschichte Gottes mit den Menschen gemäss der Bibel besteht nicht darin, dass Gott Schwierigkeiten, Trennungen, Missverständnisse oder Brüche der menschlichen Beziehungsgeflechte verhindern würde, sondern dass Gott in die verschiedensten Beziehungssituationen hinein immer wieder spricht: « Fürchte dich nicht!»1

1 Gen 15,1: zu Abraham; 21,17: Hagar; 26,24: Isaak; Jes 40,9; 41,10: Volk Gottes; Mt 1,20: Josef; Lk 1,13: Zacharias; 1,30: Maria; 2,10: Hirten; Mk 5,36: Synagogenvorsteher; Lk 12,32: Jüngerinnen und Jünger Jesu u.v. a.