Wir beraten

Die Brille der Propheten   

Dieter Bauer zur Lesung an Weihnachten am Morgen SKZ 50/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 62,11–12
Evangelium: Lk 2,15–20

Das Weihnachtsfest ist so stark geprägt durch die Kindheitserzählungen des Neuen Testaments, durch die Hirten auf dem Felde und das Kind in der Krippe, dass die alttestamentlichen Texte kaum einmal wirklich ins Blickfeld geraten. Immerhin: In den Weihnachtsliedern sind sie dann doch zu hören, die «Wächter Zions», die ihre Stimme erheben sollen.

Mit Israel lesen

Die Propheten, die in der Tradition des grossen Jesaja seine Texte nach dem Exil in Jerusalem weitergeschrieben und verkündet haben (Tritojesaja; vgl. SKZ 174 [2006], Nr. 51–52, 857), blicken auch auf die Hoffnungstexte des «zweiten Jesaja» (Deuterojesaja; Jes 40–55) zurück. Dieser hatte im Exil eine glorreiche Rückkehr der Verschleppten nach Jerusalem angekündigt:
Horch, deine (d. i. Zions) Wächter erheben die Stimme, / sie beginnen alle zu jubeln. Denn sie sehen mit eigenen Augen, / wie der Herr nach Zion zurückkehrt. Brecht in Jubel aus, jauchzt alle zusammen, / ihr Trümmer Jerusalems! Denn der Herr tröstet sein Volk, / er erlöst Jerusalem. Der Herr macht seinen heiligen Arm frei / vor den Augen aller Völker. Alle Enden der Erde / sehen das Heil unseres Gottes. (Jes 52,8–10)

Diese Hoffnung auf Heimkehr hatte sich zwar für viele inzwischen erfüllt, allerdings nicht so glorreich, wie sie es sich vorgestellt hatten. Jerusalem lag zunächst einmal zerstört und musste erst wieder befestigt werden. Der Tempel lag in Trümmern und musste in wesentlich bescheidenerem Massstab neu erbaut werden. Hatte sich der Exilsprophet also getäuscht?

Die Hoffnung stirbt zuletzt! Die Schüler des Propheten erheben – wahrscheinlich wieder total gegen den Trend! – nun auch in Jerusalem ihre Stimme, oder besser gesagt diejenige des (fiktiven) Jesaja:

Auf deine Mauern, Jerusalem, stellte ich (d. i. Jesaja) Wächter. / Weder bei Tag noch bei Nacht dürfen sie schweigen. Ihr, die ihr den Herrn (an Zion) erinnern sollt, / gönnt euch keine Ruhe! Lasst auch ihm keine Ruhe, / bis er Jerusalem wieder aufbaut, / bis er es auf der ganzen Erde berühmt macht. (Jes 62,6 f.)

Anmerkung: Der Lesungstext Jes 62,11 f. sollte unbedingt mindestens um die Verse 6–10 erweitert werden. Noch besser wäre, ab 62,1 zu lesen. Sonst kann der Kontext nicht deutlich werden!

Zum Auftrag der Propheten gehört das Wächteramt (vgl. Hab 2,1; Jer 6,17; Ez 3,17; 33,2 ff .). So verstehen sich die Schüler des Jesaja, die nun in Jerusalem ihre Stimme erheben. Tag und Nacht halten sie Wache und erinnern JHWH an seine Versprechen. Sie sind also nicht nur «Wächter», sondern auch «Erinnerer». Wie der Prophet ( Um Zions willen kann ich nicht schweigen, um Jerusalems willen nicht still sein, bis das Recht in ihm aufstrahlt wie ein helles Licht und sein Heil aufleuchtet wie eine brennende Fackel; Jes 62,1), so können auch sie nicht schweigen. Doch woran sollen sie JHWH «erinnern»?

Der Herr hat geschworen bei seiner rechten Hand / und bei seinem starken Arm: Nie mehr gebe ich dein Korn / deinen Feinden zu essen. Nie mehr trinken Fremde deinen Wein, / für den du so hart gearbeitet hast. Nein, wer das Korn geerntet hat, soll es auch essen / und den Herrn dafür preisen. Wer den Wein geerntet hat, soll ihn auch trinken / in den Vorhöfen meines Heiligtums. (Jes 62,8 f.)

Gerechtigkeit ist noch längst nicht hergestellt. Zahlreiche Kleinbauern mussten ihre Ernte gleich wieder verpfänden, um die persischen Steuern bezahlen zu können (vgl. Neh 5,4). Wo aber weder die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln («Korn») gewährleistet ist, noch irgendein Anlass zum Feiern besteht («Wein»), da kann man nicht von einer menschenwürdigen und gerechten Lebensordnung sprechen! Genau dies aber hatte JHWH einst verheissen: ein «Land voller Korn und Wein, dessen Himmel Tau träufeln lässt» (Dtn 33,28). Trotz der desolaten Situation in Jerusalem aber lassen sich die Propheten davon nicht irre machen:

Zieht durch die Tore ein und aus / und bahnt dem Volk einen Weg! Baut, ja baut eine Strasse / und räumt die Steine beiseite! / Stellt ein Zeichen auf für die Völker! (Jes 62,10) Der Exilsprophet hatte noch aufgefordert, von Babylonien aus eine Strasse für JHWH zu errichten: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Strasse für unseren Gott! (Jes 40,3). Nun wechselt die Perspektive. Die Einwohner Jerusalems sollen durch die Tore hinausziehen und dem nach Jerusalem kommenden JHWH und den noch nicht Heimgekehrten den Weg bereiten! Das heisst aber: die Verheissungen sind noch nicht erfüllt. JHWH wohnt noch nicht in der Mitte seines Volkes. All das wird noch erwartet:

Hört (wörtlich: «Sieh her»), was der Herr bis ans Ende der Erde bekannt macht: / Sagt der Tochter Zion: Sieh her, jetzt kommt deine Rettung. / Siehe, er bringt seinen Siegespreis mit: Alle, die er gewonnen hat, / gehen vor ihm her. (Jes 62,11)

Doch die Hoffnung steht fest: Die Propheten sehen es kommen. Und nicht zufällig wird dreimal zum «Sehen» aufgefordert. Das, was es zu sehen gibt, wenn JHWH seine «Rettung» (hebr. jeschucah) schickt, ist nicht so einfach zu erkennen. Dafür braucht es die richtige Brille! Aber dann:

Dann nennt man sie «Das heilige Volk», / «Die Erlösten des Herrn». Und dich nennt man / «Die begehrte, die nicht mehr verlassene Stadt». (Jes 62,12)

Mit der Kirche lesen

Die Propheten haben uns so etwas wie eine Brille hinterlassen, genau hinzuschauen, wo Gott rettend am Werk ist. Und sie wussten, dass dieses «Sehen» nicht so einfach und unmittelbar plausibel ist. Nicht zufällig sind es Hirten auf dem Feld, denen das Weihnachtsgeheimnis aufgeht und die «das Ereignis sehen» wollen (Lk 2,15). Und als sie es «gesehen» haben (2,17), können sie davon erzählen: vom Kind Jeschua (d. h. «Retter»; vgl. Mt 1,21), das nicht in Glanz und Gloria daherkommt, sondern so ganz anders als erwartet. Aber dafür braucht es eben die zu Weihnachten gehörende Brille der Propheten.