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Lizenz zum Trösten   

Winfried Bader zur Lesung am 2. Adventssonntag SKZ 48/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 40,1–5.9–11
Evangelium: Mk 1,1–8

Was ist Trost? Wie funktioniert das? Wem lizenzieren wir diese Kompetenz, uns wirksam sagen zu können: «Ich tröste dich!»? Dass es neben den autosoterischen Methoden von Psychotherapeuten und Persönlichkeitscoaches einen wirklichen Trost von aussen geben kann, zeigen die Tiefen des heutigen Lesungstextes.

Mit Israel lesen

«Tröstet, tröstet!» – mit diesen Imperativen beginnt der Text. Die Doppelung ist nicht nur eine Stileigentümlichkeit von Jesaja dem Tröster (vgl. Jes 51,9 «Erwache, erwache!», 51,12 «Ich, ich» u. a.). Sie will in den Trost die ganze Kraft legen, denn das Volk hatte besonders gelitten. Der Midrasch erkennt in Klgl 1,8 («Eine Sünde hat Jerusalem gesündigt») ein doppeltes Sündigen, in Jes 40,2 ein doppeltes Strafen, so dass es einen doppelten Trost ohne Bedingungen braucht.

Auch in Zeiten schlechter Taten und der Bestrafung im Exil bleibt Israel «Mein Volk», das Volk Gottes. Den sehr menschlichen Mechanismus, wenn es gut ist, ist es meins, wenn es schlecht ist, ist es deins, gibt es auch in der Bibel: «Der Herr sprach zu Mose: Geh, steig hinunter, denn dein Volk läuft ins Verderben» (Ex 32,7). Hier aber anders: Schon Mose wehrt sich gegen Gott, wie der Midrasch erzählt, und kommt zu dem Schluss. «Nein, seien sie schuldig oder schuldlos, immer sind sie Dein Volk» (Dtn 9,29). Der Trost an «mein Volk» bei Jesaja hält daran fest.

Der Trost ist zeitlich unbegrenzt, wie der Midrasch aus der Verbform herauslesen kann: «Unser Meister Jesaja, bist du nur gekommen, um jenes Geschlecht zu trösten, in dessen Tagen der Tempel zerstört worden ist? Jesaja antwortete: Alle Generationen bin ich zu trösten gekommen, denn es heisst nicht ‹er sprach›, sondern ‹er wird sprechen›». Die Gegenwart dieser Trostverheissung gibt auch heutigen Juden den Mut, die jüngsten Schreckensereignisse zu überwinden.

Die Quelle des Trostes ist Gott selbst. «Euer Gott», das steht zum Abschluss und erinnert an die Bekräftigungsformel bei vielen Gesetzen der Tora (z. B. Lev 11,44).

Jedes der fünf Wörter dieser ersten Zeile akzentuiert einen Aspekt des Trostes. Das wichtigste ist, dass sich diese Zeile nicht an die Traurigen selbst wendet. Es werden nicht die Endverbraucher angesprochen, die zu Recht entgegnen könnten: «Was helfen mir schöne Worte?» Der Text richtet sich an Vermittler des Trostes. Diese sind die Propheten, meint der Targum; Ibn Esra denkt an die bedeutenden Männer des Volkes; andere sagen, jeder Mensch ist gemeint. Damit entsteht eine Dynamik des Trostes, die unweigerlich zum Reich Gottes führt: Wenn jeder Mensch Ausschau hält nach Trauernden, die Trost bedürfen, dann ist jeder Mensch zugleich Tröster und Getrösteter. Dann entsteht ein Netzwerk der Empathie, das alle froh macht.

«Reden ist nichts anderes als Trösten» weiss der Midrasch zur nächsten Zeile des Textes. Ein Reden, das zu Herzen geht ist ein Sich-Einfühlen, es ist ein Versuch, das Vertrauen (so der Versuch von Sichem nach der Vergewaltigung an Dina in Gen 34,3) und die Liebe – Voraussetzung für gutes Trösten (so tröstet sich Isaak mit der Liebe zu Rebekka in Gen 24,67) – zu gewinnen. Das ist die Beziehungsebene des Trosts, der dann inhaltlich konkretisiert wird: Der Frondienst ist zu Ende, die Schuld ist beglichen und die doppelte Strafe, die Israel empfangen hatte, ist vorbei. Wenn jüdische Ausleger nachdenken, warum die Strafe doppelt war, sehen sie die besonders grosse Schuld. Der jüdische Kommentator Abarbanel aus dem 15. Jh. sieht die angesprochene doppelte Strafe realisiert in der Zerstörung des 1. und des 2. Tempels und zeigt uns so Spuren frommer Auslegung.

Vv 1–2 ist die Proklamation der göttlichen Verzeihung, Vv 3–4 schildert die Art und Weise, in der sich die Rettung Israels vollzieht. Die Exulanten kehren durch die Wüste zurück. Anders als in Jes 35, wo die Wüste blüht – was ja manchmal der Fall ist – zeigt das Bild der Nivellierung von Berg und Tal eigentlich Unmögliches. Der ebene Weg ist der Traum der Königsstrasse im Alten Orient, es ist heute der im Projekt NEAT sichtbare Traum, die Alpen im Eilzugtempo zu unterqueren. Hier ist es ein Zeichen der Liebe. Die Liebe der Ebene macht auch Alten und Gebrechlichen ein leichtes Fortkommen möglich.

Das wichtige an diesem Weg ist, dass er ein Weg für den Herrn ist. So wie beim Exodus wird Er selbst es sein, der mitzieht und diesen Weg beschreitet und seine Herrlichkeit wird offenbar.

Der Text schliesst mit dem Bild des Hirten (vgl. Ez 34 und die Auslegung zum Christkönigsonntag). Der entblösste Arm des Herrn ist der starke Arm des Kriegers (V10). Derselbe Arm sammelt behutsam die schwachen Schafe. Das Lamm, das noch nicht selbst gehen kann, trägt er an seiner Brust, die Mutterschafe, die besondere Rücksicht brauchen, werden nicht angetrieben, sondern sanft geleitet.

Lizenz zum Trösten, wem wird die heute noch zugestanden? Menschen, die mit viel Einfühlung dem hier beschriebenen Auftrag nachgehen.

Mit der Kirche lesen
Markus, mit dessen Anfang des Evangeliums wir das Markus-Lesejahr A eröffnen, zitiert Jes 40,3 wörtlich und hat damit die grosse Bekanntheit des alten Textes in der ganzen weiteren Wirkungsgeschichte begründet. Wie Jesaja überschreibt Markus seine Botschaft als «gute Botschaft» (Evangelium) und stellt sie in den Kontext von Vergebung und Umkehr. Das Zitat in griechischer Sprache nach LXX teilt den Satzbezug anders ein als das Hebräische. Dort heisst es: «Eine Stimme ruft! Durch die Wüste bereitet dem Herrn den Weg». Bei Markus dagegen: «Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg!». So wird die Stimme in die Wüste verlegt, wo der Weg des Herrn ist, bleibt ungesagt und öff net damit die Tür für innerliche und moralische Interpretation, sich selbst durch Umkehr und Taufe vorzubereiten auf den Herrn.

Deuterojesaja oder Jesaja der Tröster

Mit Kapitel 40 gibt es im Jesajabuch eine Zäsur. Nach der Beschreibung des Untergangs des ersten Tempels, kündet er nun vom Aufbau des Zweiten (Ibn Caspi 1340). Die Bibelwissenschaft spricht seit dem Kommentar Bernhard Duhms 1992 vom zweiten = deutero Jesaja, einem nicht näher bekannten Propheten aus der Zeit nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 v. Chr., der Worte und Ankündigungen auch an einen fremden König, den persischen König Kyros, richtete.
Ob Kapitel 40–55 einheitlich von diesem Propheten stammen, ist heute eher umstritten. Man rechnet mit einem Redaktionsprozess des ganzen Jesajabuches, der sich bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. hinzog. Sicher ist, dass diese Kapitel exilische Texte enthalten.
Die traditionelle jüdische Bibelexegese weiss nur von einem einzigen Propheten Jesaja und erklärt mit Jesus Sirach: «Mit grosser Geisteskraft sah Jesaja die Spätzeit voraus» (Sir 48,24). Moderne jüdische Bibelkommentare, die den offensichtlichen Unterschied innerhalb des Jesajabuchs auch sehen, umgehen eine Festlegung auf verschiedene Personen und nennen den Autor ab Kap. 40 «Jesaja den Tröster».