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«...Dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen»   

Peter Zürn zur Lesung am Ersten Adventssonntag SKZ 48/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 63,16b–17.19b; 64,3–7
Evangelium: Mk 13,24–37

Mit Israel lesen

Der Lesungstext ist ein Ausschnitt aus einem Klagepsalm, der die Verse 63,7 bis 64,11 umfasst. Es ist ein Klagepsalm des Volkes Israel, der im Angesicht von Zerstörung, Tod und Gottverlassenheit ertönt (vgl. 63,18). Er spricht von der Zerstörung Jerusalems und des Tempels und der Deportation nach Babylon. Solche Erfahrungen haben sich aber – Gott sei’s geklagt – in der Geschichte wiederholt. Im Leid der Gegenwart ist Gott nicht mehr erkennbar und die Anwesenheit Gottes nicht spürbar. Der Lesungstext ist ein Klagepsalm der Gottverlassenheit wie Ps 22: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»

Gibt es Wege, die über die Gottverlassenheit und den Tod hinausführen? Was kann Mut machen, erste Schritte zu wagen? Jesaja ruft frühere Erfahrungen in Erinnerung, zuallererst den Namen Gottes, den die vorausgegangenen Generationen bewahrt haben: «Unser Erlöser von jeher» (63,16b). Die Erinnerung soll zurückgehen bis zu den Anfängen – diese Perspektive durchzieht den Lesungstext wie ein roter Faden:

– Zweimal heisst es «seit Menschengedenken» und «von Urzeit an» (64,3 und 4). – Die Verse 63,17 und 64,4 lassen mit den Wegen, von denen die Menschen abirren, über die sie aber doch weiterhin nachdenken, den Anfang des Psalters anklingen. Psalm 1, das «Tor zu den Psalmen», verheisst: «Selig der Mensch, der über Gottes Weisung nachsinnt bei Tag und Nacht… Gott kennt den Weg der Gerechten.»

– Jes 64,7 erinnert mit dem Bild von Gott als Töpfer und den Menschen als Werk seiner Hände an den Schöpfungsbericht von Gen 2.

– Auch Psalm 22 erinnert an einen Anfang: «Du bist es, der mich aus dem Schoss meiner Mutter zog, mich barg an der Brust der Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf dich, vom Mutterleib an bist du mein Gott.» (22,10–11). Wer diesen Psalm betet, macht sich in der Gottverlassenheit das eigene Geborensein bewusst. Wir leben, weil wir in der grössten Schutzlosigkeit des Anfangs Hilfe erfahren, menschliche und göttliche Geburtshilfe. Die Erinnerung daran kann die Hoffnung stärken, dass auf die Schmerzen der Wehen die Geburt neuen Lebens folgt und Gott sich auch jetzt wieder als Hebamme erweisen wird.

Was in Ps 22 aber zu einem Lobgesang führt, bleibt im Klagepsalm bei Jesaja gebrochen, trotz des zunehmend flehenden und beinahe beschwörenden Tons Gott gegenüber. Die Erinnerung an die Anfänge eröffnet die Wege aus der Gottverlassenheit nicht automatisch. In Jes 63,16a ist die Verbindung zu den Anfängen denn auch explizit unterbrochen: «Du bist doch unser Vater, denn Abraham weiss nichts von uns, Israel will uns nicht kennen.» Die Stammväter des Volkes haben in der Wahrnehmung ihrer Nachkommen die Beziehung und damit die Generationenkette der Überlieferung abgebrochen. Die Väter haben ihre Kinder und Kindeskinder verlassen. Beinahe trotzig reagieren die Alleingelassenen und rufen stattdessen Gott zu ihrem Vater aus. Aber auch die Verbindung zum neuen himmlischen Vater ist nicht einfach – wie der mitunter beinah sarkastische Ton verrät (vgl. 63,15)1.

Sich von den Stammvätern verlassen zu fühlen, drückt im jüdischen Kontext eine besonders traumatische Erfahrung aus. Im Achtzehngebet, dem Mittelpunkt jedes Gottesdienstes, heisst es ja gerade: «Der du die Frömmigkeit der Väter erinnerst und einen Erlöser bringst ihren Kindeskindern.» Jüdische Menschen hofften in Not und Verfolgung immer wieder auf Gottes Eingreifen «um der Verdienste der Väter willen» und rangen um die Verbindung zu den Vorfahren. Wie der 16-jährige Mosche Flinker, der in seinem Tagebuch vom 22. Januar 1943 im besetzten Brüssel einen Satz schreibt, der der Jesajaklage sehr nahe kommt: «Ich wusste nicht, in wessen Namen ich noch beten sollte. Wie kann das Achtzehngebet dazu Gelegenheit bieten – ‹In Erinnerung an unsere Vorväter und deren Verdienste›? Unsere Vorväter sind zu weit von uns entfernt.»2 Sich von Vätern verlassen zu fühlen, ist eine traumatische Erfahrung. Warum aber ist in Jes 63,16a nur die Rede von Abraham und Israel/Jakob. Aus der traditionellen Formel der Stammväter fehlt auffallenderweise Isaak. Fehlt er, weil er selbst mit seinem Vater eine traumatische Erfahrung machen musste, als Abraham ihn auf Weisung Gottes auf einen Opferaltar band? Musste sich Isaak in dieser Situation nicht auch von seinem Vater und von Gott verlassen fühlen? Sören Kierkegaard hat sich mit dieser verstörenden Geschichte auseinandergesetzt und Varianten entworfen. In einer davon wandelt sich Abrahams Gesicht zur Wildheit, er wirft Isaak zu Boden und ruft: «Dummer Junge, glaubst du, ich sei dein Vater? Ich bin ein Götzenverehrer. Glaubst du, es ist Gottes Befehl? Nein! Es ist meine Lust.» In seiner Todesnot und seinem Entsetzen ruft Isaak den Gott Abrahams an – wie in Jes 63: «Habe ich keinen Vater auf Erden, so sei du mein Vater!» Daraufhin spricht Abraham leise bei sich selbst: «Herr im Himmel, ich danke dir; es ist doch besser, dass er glaubt, ich sei ein Unmensch, als dass er den Glauben an dich verlöre.» Abraham opfert sich selbst, seine Vaterschaft, damit Isaak mit Gott verbunden bleiben kann. 3 Auch wenn dieser Midrasch zu Gen 22 anregt, auch Jes 63 neu zu lesen, so lässt er mich doch verstört und erlösungsbedürftig zurück und ich verstehe, warum der Prophet Maleachi sein Buch mit der endzeitlichen Verheissung beendet, dass der Prophet Elija «das Herz der Väter wieder den Söhnen und das Herz der Söhne ihren Vätern zuwenden wird» (Mal 3,24). Von der Beziehung zwischen Vätern und Kindern hängt Heil oder Untergang des Landes ab.

Trotz der Gebrochenheit der Beziehung ist der Klagepsalm von Jes 63–64 ein Gebet, ein Gespräch mit Gott. Die Zeit- und Leidensgenossin von Mosche Flinker, Etty Hillesum, führt in ihrem Tagebuch Gespräche mit Gott – im Wissen um ihre bevorstehende Deportation aus Holland in die Vernichtungslager. Am 12. Juli 1942 notiert sie: «Ich werde in der nächsten Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen.» 4

Mit der Kirche lesen

Wege, die über die Gottverlassenheit und den Tod hinausführen? Mut, um erste Schritte auf diesen Wegen zu wagen? Adventliche Fragen. Die Bibel weist uns an, die Anfänge zu erinnern. Das tun wir an Weihnachten und auch, wenn wir die überlieferten Geschichten, die Zeugnisse unserer Vorfahrinnen und Vorfahren, immer wieder von vorne und neu lesen – wie zu Beginn des neuen Lesejahres mit dem Markusevangelium im Zentrum. Auch Mk weist am Ende auf den Anfang zurück: «Er geht euch voraus nach Galiläa» (Mk 16,7)5. Am Grab ist von Auferstehung ist die Rede. Wie es weitergeht, bleibt off en. Am Ende herrschen Entsetzen und Furcht. Auch die Botschaft von der Auferstehung ist kein Automatismus. Jesu Rede von der Endzeit in Mk 13 weist uns an, wach zu bleiben für das, was nötig ist, damit am Tag Gottes das Land nicht dem Untergang geweiht ist (Mal 3). Etty Hillesums Tagebücher sind Zeugnis solcher Wachheit.


1 «Der einstige Helfer scheint sich wohl aufs Altenteil in seinem Himmelspalast zurückgezogen zu haben». So die Paraphrase von Thomas Staubli: Erinnerung stiftet Leben. Begleiter zu den Sonntagslesungen aus dem Ersten Testament. Lesejahr B. Luzern 2002, 36.
2 Auch wenn ich hoffe. Das Tagebuch des Mosche Flinker. Berlin 2008, 86.
3 Zitiert nach B. Greiner / B. Janowski / H. Lichtenberger (Hrsg.): Opfere deinen Sohn! Das «Isaak- Opfer» in Judentum, Christentum und Islam. Tübingen 2007, 318.
4 Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941–1943. Hamburg 1985, 150.
5 Vgl. Peter Zürn: Das Karsamstagsevangelium, in: SKZ 176 (2008), Nr. 46, 759.