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Das Karsamstags-Evangelium   

Peter Zürn zum Lesejahr B und dem Markusevangelium SKZ 46/2008

Im Lesejahr B bekommt das Markusevangelium besondere Aufmerksamkeit. Dieses Evangelium endet (in seinem ursprünglichen Schluss) mit merkwürdigen und irritierenden Worten: «Da verliessen sie das Grab und flohen. Denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich» (Mk 16,8). Sie, das sind drei Frauen, Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus und Salome, die Jesus schon in Galiläa nachgefolgt waren (Mk 15,41) und die jetzt mit wohlriechenden Ölen zum Grab kommen, um den toten Jesus zu salben. Die männlichen Jünger sind zu diesem Zeitpunkt schon lange aus der Erzählung verschwunden. Der Letzte, von dem erzählt wird, ist Petrus, der Jesus verleugnet (Kapitel 14). Das passt zu ihrem Bild im gesamten Markusevangelium. Das Motiv des sogenannten «Jüngerunverständnisses» ist in der Exegese immer wieder als typisch markinisch herausgestellt worden. Die Männer, die Jesus nahestehen, verstehen ihn nicht, sie folgen ihm nicht nach. Den Frauen, die ihn bis zum Kreuz und zum Grab begleiten, fährt am Ende der Schrecken in die Glieder und sie verstummen. Monika Fander fasst das markinische Bild der Jüngerinnen und Jünger zusammen: «Die wichtigsten Personen im Markusevangelium sind entweder verwirrt oder verstehen nicht, wer Jesus ist und die Bedeutung dessen, was geschieht. Und alle sind sie mit Sprachlosigkeit geschlagen.»1 Für Ina Prätorius ist die Erfahrung der Jüngerinnen und Jünger all denen vertraut, die schon einmal einen geliebten Menschen verloren haben. «Es fühlt sich an, als seien nicht nur der Verstorbene, sondern auch die Zurückgebleibenden hinabgestiegen in das Reich des Todes. Die einen lassen alles stehen und liegen und machen sich davon… Die anderen versuchen, irgendwie weiter zu funktionieren. ‹Das Leben muss schliesslich weitergehen›, sagt man, wenn man nach einem Todesfall die gewohnten Beschäftigungen wieder aufnimmt.»2

Der Tag dazwischen

Was ist das für ein Evangelium, das seine zentralen Figuren, die doch wohl Identifikationsfiguren für die Leserinnen und Leser sein sollen, so darstellt?

Das Markusevangelium beginnt mit macht und hoffnungsvollen Worten: «Anfang der Heilsbotschaft von Jesus, dem Messias, Gottes Sohn… Erfüllt ist die Zeit und genaht das Königtum Gottes. Kehrt um! Und: Glaubt der Heilsbotschaft!» (Mk 1,1 und 1,15 in der Übersetzung von Fridolin Stier). Die theologischen Leitworte dieses Anfangs (Heilsbotschaft/ Evangelium, Messias, Sohn Gottes, Umkehr) werden aber auffälligerweise in den folgenden Kapiteln nicht wieder aufgegriff en. In 1,15–8,26 ist keine Rede davon. Den macht- und hoffnungsvollen Worten folgt nicht die Erzählung ihrer Entfaltung. Das Markusevangelium erzählt keine nahtlose Geschichte, sondern im Gegenteil: Es erzählt die Geschichte eines tief greifenden Bruchs.

Und obwohl die letzten Verse des Evangeliums «in aller Frühe am ersten Tag der Woche» (16,2) spielen, also liturgisch gesehen am Ostersonntag, scheint das Markusevangelium nicht wirklich über den Karsamstag hinauszuführen. Ist das Markusevangelium das Evangelium des Karsamstags? Der Karsamstag ist der Tag zwischen Karfreitag und Ostersonntag. Diese beiden Tage verdichten in der christlichen Tradition menschliche Erfahrungen: der Karfreitag die Erfahrung von Grenzen und Leid, die Begegnung mit dem Tod; der Ostersonntag die Erfahrung von Neuanfängen, aufrechtem Gang, die Hoffnung auf die Fülle des Lebens über den Tod hinaus. Der Karsamstag «liegt zwischen Tod und Leben, theologisch gesprochen zwischen Kreuz und Auferstehung».3 Er ist eine Zwischenzeit. Er erinnert uns daran, dass es in jedem Leben lähmende Zwischenzeiten gibt. Wenn das Markusevangelium ein Karsamstagsevangelium ist, von welcher lähmenden Zwischenzeit erzählt es?

Das Trauma des Jüdischen Krieges

Das Markusevangelium entstand – so die vorherrschende Meinung in der Exegese – um das Jahr 70. Das heisst, es entstand genau in der Zeit des ersten Jüdischen Krieges gegen das Römische Imperium. Im Jahr 67 entsendet Kaiser Vespasian Truppen nach Palästina, um einen Aufstand in Galiläa niederzuschlagen. Die 60 000 Legionäre und Hilfstruppen führen den Krieg mit entsetzlicher Grausamkeit, Zehntausende werden bestialisch ermordet, Jerusalem und der Tempel werden zerstört. Ist es denkbar, dass die Geschichte Jesu, der in Galiäa und Jerusalem wirkte, der dem Volk Israel das Reich Gottes verkündete, im Jahr 70 erzählt und aufgeschrieben wird, ohne dass die traumatische Erfahrung dieses Krieges dabei eine Rolle spielte?

Liegt es nicht viel näher, davon auszugehen, dass der Jüdische Krieg der Hintergrund des Markusevangeliums ist? Dass sich Markus und seiner Gemeinde folgende drängende Fragen stellen. Wo war Gott bei der Zerstörung Jerusalems? Wo ist das verkündigte Reich Gottes? Wie konnte eine solche Katastrophe nach dem Tod und der Auferstehung Jesu noch geschehen? Welchen Sinn hat die Rede von der Auferstehung eines Einzelnen angesichts der Leichenberge in Palästina?

Müssen wir das Markusevangelium nicht als Versuch lesen, die Kriegserlebnisse zu verarbeiten?4 Monika Fander liest es so. Sie weist darauf hin, dass der Weg Jesu – so wie Markus ihn schildert – dem Verlauf des Krieges folgt. Die Hauptschauplätze sind identisch: Galiäa und Jerusalem. Nur hier gibt es grössere Kampfhandlungen; der Krieg, der in Galiläa beginnt, entscheidet sich schliesslich in Jerusalem und endet in einem Wald von Kreuzen. Auch Jesus zieht von Galiläa nach Jerusalem und zwar genau entlang der Route des römischen Heeres ab 67 – wie sie von Josephus Flavius berichtet wird. Jesus kündigt auf diesem Weg dreimal sein Leiden an und macht Jerusalem als Ort der Entscheidung und der Passion deutlich. Am Ende des Krieges ist die Bevölkerung Jerusalems teils während der Belagerung verhungert, teils ermordet, teils in die Sklaverei verkauft, die Stadt selbst ist völlig verwüstet. Das Markusevangelium führt über Golgota zum Grab, zu einem wüsten Ort, zum Ort der Toten.

Die Krise des Auferstehungsglaubens

Das Markusevangelium endet mit Entsetzen und Sprachlosigkeit. Die Auferstehungsbotschaft wird nicht weitererzählt. Denn die Ereignisse des Jahres 70 bringen die christliche Auferstehungsbotschaft in die schwerstmögliche Krise. Andreas Bedenbender formuliert sie so: «Wenn ein Menschenalter nach dem ersten Osterruf: Er ist auferstanden! keine allgemeine Auferstehung, kein universaler Anbruch der Gottesherrschaft gekommen ist, sondern zehntausendfaches Sterben und der Untergang Jerusalems – ist es dann nicht Zeit für das Eingeständnis, dass die Botschaft des Evangeliums blosses Gerede war? Oder anders: Wenn die Auferstehungsbotschaft kein Gerde war, dann muss sich die christliche Gemeinde… nun auf einmal mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass sie selbst von ‹Auferstehung› immer schon eine falsche Vorstellung gehabt haben mochte».5

Die Vorstellung einer massiven Krise des Auferstehungsglaubens wirft ein neues Licht auf die auffälligen Züge des Markusevangeliums, von denen oben die Rede war: auf den Beginn mit den macht und hoffnungsvollen Worten, die dann nicht entfaltet werden und gleichsam abbrechen; auf das Motiv des «Jüngerunverständnisses»; und auf den Schrecken und das Verstummen der Frauen am Grab. Die Jüngerinnen und Jünger verkörpern die Krise des christlichen Glaubens, den Verlust der christologischen Sprache. Markus gibt dem Unverständnis und der Sprachlosigkeit der Jüngerinnen und Jünger in seinem Evangelium grossen Raum. «Er räumt der Verzweiflung ein gewisses, zumindest nachvollziehbares Recht ein».6 Angesichts des furchtbaren Kriegstraumas sind Erstarrung, Verzweiflung und Sprachlosigkeit normal und verständlich. Und eine allzu schnelle tröstliche Antwort wäre wohl nur Vertröstung, sie würde kaum wirklich tragen. Vor den Trümmern und den Leichenbergen Jerusalems wäre eine triumphierende Auferstehungsbotschaft nur zynisch. Markus widersteht dem. Er hält das Erstarren und Verstummen seiner Hauptpersonen (und vieler seiner Leserinnen und Leser) aus. Monika Fander verweist auf Studien über Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Darin wird deutlich, dass die Bearbeitung traumatischer Erfahrungen sehr viel Zeit braucht. Und auch der markinische Ausdruck «sie erzählten niemandem etwas davon» gewinnt auf diesem Hintergrund neue Bedeutung.7 Die Zeit, die es für die Bearbeitung von traumatischen Erfahrungen braucht, heisst theologisch Karsamstag. Das Markusevangelium gibt den Karsamstagserfahrungen, die sich manchmal unerträglich in die Länge ziehen, ihre Zeit und ihren Raum.

Wege aus der Sprachlosigkeit

Das Markusevangelium gibt aber den Auferstehungsglauben nicht auf. Es trägt die Botschaft des Evangeliums weiter und weist vorsichtig Wege über die Sprachlosigkeit hinaus. Das Aushalten des Erstarrens und Verstummens ist vermutlich bereits der erste und wichtigste Schritt dazu. Die Hauptpersonen im Evangelium bleiben hier stehen. Markus richtet seinen Blick dafür in besonderer Weise auf seine Leserinnen und Leser. Sie wissen mehr als die Personen im Text. Sie wissen ja von der ersten Zeile an, dass Jesus der Messias, der Sohn Gottes ist. Bei der ersten Szene des Evangeliums, die von Jesus erzählt, seiner Taufe am Jordan (1,9–11) – sind die Leserinnen und Leser die einzigen Zeugen des Geschehens. Nur sie erfahren von dem, was ansonsten ausschliesslich Jesus hört und sieht: Dass der Himmel sich öffnet und der Geist Gottes herabkommt, dass eine Stimme aus dem Himmel Jesus als geliebten Sohn bezeichnet. Von den Jüngerinnen und Jüngern ist zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Rede. Was bedeutet diese Ausrichtung auf die Leserinnen und Leser auf dem Hintergrund der Krise des Auferstehungsglaubens? Welche Wege aus der Sprachlosigkeit ergeben sich dadurch?

Es geht darum – so meine These – etwas zu lernen. In- und auswendig zu lernen, sich anzueignen, zu verinnerlichen und es zu praktizieren.8 Mit dieser Hochschätzung des Lernens steht Markus in der jüdischen Tradition. Das Lernen der biblischen Überlieferung im beschriebenen Sinn ist im Judentum immer zentral gewesen und bis heute geblieben. Der Talmud hat eine eigene Regel für das Auswendiglernen im Schulunterricht entwickelt. Sie besteht darin, die Texte, die gelernt werden sollen, viermal zu wiederholen. Durch viermalige Wiederholung hätten schon die Israelitinnen und Israeliten am Sinai die Tora auswendig gelernt und zwar folgendermassen:

Moses lernte im Begegnungszelt von Gott, dann trat sein Bruder Aaron ein und Moses wiederholte für ihn das Empfangene. Aaron setzte sich, seine Kinder traten ein und Moses wiederholte zum zweiten Mal. Sie setzten sich, die Ältesten traten ein und Moses wiederholte zum dritten Mal. Die Ältesten setzten sich, das Volk trat ein und Moses wiederholte zum vierten Mal. So hörte Aaron viermal, seine Kinder dreimal, die Ältesten zweimal und das ganze Volk einmal. Daraufhin verliess Moses das Begegnungzelt und Aaron wiederholte noch einmal, dann ging Aaron und seine Kinder wiederholten, dann gingen sie und die Ältesten wiederholten – so hörten alle viermal die Überlieferung (bEr 54b).9

Diese Struktur von Wiederholungen lässt sich auch im «Herzstück des Markusevangeliums» (Martin Ebner), dem Weg von Galiläa nach Jerusalem (Mk 8,27–10,52) erkennen. Es ist gegliedert durch drei Leidens- und Auferstehungsankündigungen Jesu: Mk 8,31–32; 9,30–32; 10,32–34. Ihre Gemeinsamkeiten sind auffallend, zum Teil gibt es wörtliche Übereinstimmungen. Für Hermann-Josef Venetz erwecken diese drei Ankündigungen «den Eindruck, als ob etwas eingehämmert werden müsste».10

Was hier eingehämmert, was in- und auswendig gelernt werden soll, das erinnert Venetz an das urchristliche Glaubensbekenntnis, das Paulus im Ersten Korintherbrief überliefert: «Christus ist für unsere Sünden gestorben gemäss der Schrift, er ist begraben worden, er ist auferweckt worden am dritten Tag gemäss der Schrift» (1Kor 15,3–5). Dabei geht es aber um mehr als darum, dieses Glaubensbekenntnis auswendig zu lernen und es hersagen zu können. Im Herzstück des Evangeliums geht es um ein existentielles Verinnerlichen und Sich-Aneignen im Vollzug. Es geht darum, das Gelernte zu praktizieren, mit ihm auf dem Weg zu sein, auf dem Weg des eigenen Lebens.

Die vierte Wiederholung

Die Jüngerinnen und Jünger hören diesen «Lernstoff » dreimal. Wo bleibt die vierte Wiederholung? Sie soll sich im Leben der Leserinnen und Leser des Evangeliums ereignen. Dabei ist sich das Evangelium sehr wohl bewusst, dass das alles andere als einfach ist. Die Jüngerinnen und Jünger verkörpern ja auf drastische Weise die Schwierigkeiten diesem Lernstoff gegenüber. Die Leserinnen und Leser sind also vorgewarnt. Sie werden vom Evangelium auf die Blinden verwiesen, die sehend wurden und deren Heilungserzählung den Weg Jesu mit den drei Ankündigungen an die Jüngerinnen und Jünger einrahmen (Mk 8,22–26; 10,46–52). Sie werden eingeladen wie der blinde Bartimäus, dessen Geschichte die Wegerzählung abschliesst, Jesus zu bestürmen und zu schreien, dass ihnen doch endlich die Augen geöffnet werden.

Noch einmal von vorne lesen

Wer im Jahr 70 die Augen öffnet, sieht die Leichenberge von Jerusalem. Wie kann es gelingen, trotzdem, trotz allem, was geschehen ist, noch etwas anderes zu erkennen? Das Markusevangelium verweist am Schluss auf seinen Anfang zurück. Die Frauen am Grab werden auf den Weg nach Galiläa geschickt. Dorthin ist ihnen Jesus, der Auferstandene vorausgegangen. «Dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat» (16,7). In Galiläa liegt die Zeit des heilsamen und aufrichtenden Wirkens Jesu und der Menschen, die ihm nachfolgen. Dort verbreitet sich die Kunde von seiner Botschaft «wie ein Lauffeuer» (1,28). Dort können die Stummen eine neue Sprache finden. Der Auftrag nach Galiläa zu gehen bedeutet sich an die Anfänge zu erinnern, die Geschichte von Jesus, dem Messias, vom Ende her noch einmal neu von Anfang an zu lesen. Wenn die Menschen in Mk 16,8 verstummen, wenn nach der Zerstörung Jerusalems die Worte «Er ist auferstanden!» nicht mehr über die Lippen kommen wollen, dann kann es helfen, das, was geschehen ist, noch einmal zu lesen, es im Licht der Botschaft von der Auferstehung zu betrachten, von der am Grab die Rede ist. Mit dem Wissen um das Ende des Textes «setzt sich das, was unverständlich, leidvoll und sinnlos erscheint, wie die einzelnen Teile eines Mosaiks zu einem sinnvollen Ganzen zusammen».11 Das ist eine Erfahrung, wie wir sie in unseren Biografien auch machen. Erst im Rückblick wird manchmal im Geschehenen ein Sinn erkennbar.

Mit dem Rückverweis auf das frühere Geschehen, auf den Anfang der Geschichte, folgt das Markusevangelium der Struktur der fortlaufenden Toralesung in der Synagoge. Die Tora endet mit dem Tod des Mose und der Trauer um ihn in Dtn 34. Sie schliesst mit dem Ausblick auf das Gelobte Land, nicht mit Jubel über sein Erreichen. Die letzten Verse richten den Blick zurück. Sie erinnern noch einmal an die Leiden des Volkes in Ägypten und die Zeichen und Wunder zu seiner Rettung, die im Volk Schrecken hervorriefen. Die Parallelen zum Schluss des Markusevangeliums sind deutlich. Nach Dtn 34,12 wird in der Synagoge Gen 1,1 gelesen: «Im Anfang». So geht auch Mk 16,8 mit Mk 1,1 weiter: «Anfang des Evangeliums». Der Anfang des Markusevangeliums zitiert den Anfang der Tora. Das Schöpfungslied von Gen 1 entstand aus der Erfahrung des Babylonischen Exils. Es versucht die Zerstörung Jerusalems und des Tempels, das Leid des Krieges und die Deportationen zu verarbeiten. Zeigt sich darin nicht die Ohnmacht und das Schweigen Gottes wie der Psalm 22 klagt, den Jesus am Kreuz betet (Mk 15,34)? Auch das Exil war eine existentielle und theologische Katastrophe, ein Trauma. Auch es führte zu einer tiefen Glaubenskrise. Das Schöpfungslied ist Ausdruck eines Neu anfangs nach dem Exil. Es antwortet auf die Frage: Wer ist Herr über die lebensfeindlichen Chaosmächte? Die Antwort ist ein Hymnus auf Gottes Schöpfungsmacht. Sie vermag die Finsternis und das Chaos zurückzudrängen und aus dem Tohuwabohu fruchtbare und bewohnbare Erde zu machen. Das Markusevangelium knüpft daran an.

Traumabewältigung im Zeitraffer

Wenn nach dem Ende der Toralesung ihr Anfang bzw. nach Mk 16,8 Mk 1,1 gelesen wird, dann «wird in einer Art Zeitraffer die mögliche Bewältigung einer traumatischen Erfahrung geschildert».12 Diese Bewältigung ist aber kein Automatismus, sie kann auch scheitern. Ob man in der Erstarrung verbleibt oder im Geschehenen Spuren des neuen Lebens, der Auferstehung, entdeckt, ist off en. Vom Unverständnis zum Verstehen, von der Blindheit zum Sehen, von der Furcht zum Glauben führt kein zwingender Beweis. Der Weg dorthin ist nicht in einer Landkarte aufgezeichnet und auch nicht im Markusevangelium beschrieben. «Der Schritt von der Verzweiflung zur Rettung bleibt ein qualitativer Sprung: vom Nichtvertrauen ins Vertrauen.»13

Es bedarf eines Sprunges, der Entscheidung für einen Perspektivenwechsel, für den Glauben, dass Zerstörung und Chaos nicht die Übermacht behalten, sondern der Geist Gottes über den Wassern schwebt. Damit wird die Welt nicht zur Idylle verharmlost, die Todesmächte verschwinden nicht einfach. Die Bibel leitet an zum Leben in der realen Welt, in der noch unbefreiten Schöpfung. Das Markusevangelium spricht vom Weg der Nachfolge des Gekreuzigten. Jesus ist der Messias, auf den das Volk hofft. Er ist es aber als Leidender. Auch dafür gibt es ein biblisches Vorbild, das in den Liedern vom Gottesknecht bei Jesaja Ausdruck findet. Der Gottesknecht, das Volk Israel und Jesus werden nicht durch ein gewaltiges Eingreifen Gottes gerettet. Der Weg durch das Leid führt zu neuem Leben. Was im Markusevangelium als Abbruch erscheint, kann durch die Auferweckung in ein ganz neues Licht gestellt werden. Vordergründig haben sich die Todesmächte durchgesetzt. Aber der Leidende überlebt sie. Er wird von Gott neu geschaffen. Dieser Glaube und diese Hoffnung gilt für Jesus, für die Gekreuzigten des jüdischen Krieges und für alle Opfer der Geschichte. Sie sollen erinnert, von ihnen soll erzählt werden.

Karsamstag: Mit den Frauen am Grab

Das Karsamstagsevangelium des Markus endet mit den Frauen am Grab. Sie kamen mit wohlriechenden Ölen, um den Leichnam Jesu zu salben, wie die salbende Frau in Betanien, die den Leib Jesu im Voraus für das Begräbnis salbt (Mk 14,8). Von ihr heisst es: «Überall auf der Welt, wo das Evangelium verkündet wird, wird man sich an sie erinnern und erzählen, was sie getan hat.» Auch die salbenden Frauen am Grab sollen erinnert, auch von ihnen soll erzählt werden. Sie hören von der Auferstehung. Was das bei ihnen bewirkt, bleibt offen. Der Karsamstag ist der Tag der Menschen, die nicht wissen, ob sie an die Botschaft von der Auferstehung glauben können und die dennoch weiterleben und trotz aller Verzweiflung für das Leben arbeiten. Ina Prätorius nennt das «Weiterleben und Weitermachen ins Ungewisse hinein, trotz Krieg, trotz Klimawandel, trotz Tod» eine karsamstägliche Frömmigkeit. Eine solche Frömmigkeit hat Folgen auch für Ostern. «Karsamstäglich begangen wäre der Ostersonntag nicht der Tag des triumphierenden Glaubens, sondern des ungläubigen Staunens.»14

Literaturhinweise

Folgende Publikationen zum Markusevangelium können bei der Bibelpastoralen Arbeitsstelle bezogen werden:

Peter Zürn (Hrsg.): Erinnern und erzählen. Das Markusevangelium in- und auswendig lernen. Stuttgart 2008, Fr. 21.90. Das Buch beinhaltet neben einer bibeltheologischen Einführung ins Markusevangelium und einer methodischen Einführung in das In und Auswendiglernen von Texten 7 Bibelarbeiten zu zentralen Stellen aus dem Markusevangelium; Markus entdecken. Lese und Arbeitsbuch zur Bibel. Stuttgart 1998, Fr. 8.–; «Damit es neu anfängt…» Impulse aus der Markusapokalypse (Mk 13). Unterlagen zum Bibelsonntag 2006, Fr. 10.–.

Näheres unter www.bibelwerk.ch; BPA, Bederstrasse 76, 8002 Zürich, Telefon 044 205 99 60, E-Mail infobibelwerk.ch.

1 Monika Fander: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Kriegs-) Traumatisierung als Thema des Markusevangeliums in: Elisabeth Moltmann-Wendel / Renate Kirchhoff (Hrsg.): Christologie im Lebensbezug. Göttingen 2005, 135.
2 Ina Prätorius: Karsamstag in: Dies.: Gott dazwischen. Eine unfertige Theologie. Ostfildern 2008, 82 f.
3 Ebd., 80.
4 Monika Fander, die diese Frage stellt, folgt dabei einer Markusauslegung aus dem Lehrhaus in Berlin, die von Andreas Bedenbender in der Zeitschrift Texte und Kontexte (3/1995, 4/1995, 1+2/1998, 3/2007 und 1/2008) ausführlich vorgestellt wurde.
5 Andreas Bedenbender, zitiert nach Fander (wie Anm. 1), 133.
6 Fander (wie Anm. 1), 136.
7 Ebd., 15.
8 Vgl. den gerade neu erschienenen Band der Reihe Werkstatt Bibel: Peter Zürn (Hrsg.): Erinnern und erzählen. Das Markusevangelium in- und auswendig lernen. Stuttgart 2008.
9 Nach David Krochmalnik: Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen. Augsburg 2006, 29.
10 Hermann-Josef Venetz: Auf dem Weg nach Galiläa. Der Erzählentwurf des ältesten Evangeliums, in: Bibel und Kirche 3/2007, 148.
11 Fander (wie Anm. 1), 150.
12 Ebd., 140.
13 Ebd., 155.
14 Prätorius (wie Anm. 2), 85.