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Menschen seid ihr – nicht Schafe!   

Winfried Bader zur Lesung am Christkönigssonntag 2008 SKZ 46/2008

Alttestamentliche Lesung: Ez 34,11–12.15–17
Evangelium: Mt 25,31–46

Wie soll man in unserem Land, das seit mehr als 700 Jahren eine stabile Geschichte ohne einen König hat – oder vielleicht gerade deswegen stabil ist, weil es keinen König gibt – und heute mit seiner basisdemokratischen Herrschaft nicht einmal Politikerfiguren eine Plattform bietet und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – zu den wohlhabendsten Ländern der Erde gehört, in einem Land also, in dem die meisten messianischen Hoffnungen auf eine bessere Welt bereits erfüllt sind – oder erfüllt zu sein scheinen – wie soll man hier die Idee von Christus dem König vermitteln? Hilft dazu das Bild des Hirten aus der Ezechiel-Lesung des Sonntags? Der Hirt, eine nostalgische Figur unserer Almwirtschaft, die wir uns aus Gründen des Naturschutzes subventionieren, obwohl jeder weiss, dass die industrielle Fleischproduktion im Flachland effizienter arbeitet. Ist Christus der König also nur etwas Zusätzliches, was wir noch haben, weil es nett ist, aber nicht wirklich gebraucht wird?

Mit Israel lesen

Im Midrasch zu Ps 23 «Der Herr ist mein Hirte» heisst es: Du findest wohl kaum einen verachteteren Beruf als jenen des Hirten. Denn sein Leben lang geht er mit seinem Stock und seinem Ranzen umher. Er hat also keinen festen Wohnsitz, lässt sich nicht einordnen. Ohne Vorratshaltung setzt er sich zur Versorgung seiner Herde der Natur aus. Liegt gerade darin vielleicht schon eine Wahrheit, Gott im Bild eines Hirten zu fassen?

Wenn Ezechiel das Bild des Hirten verwendet, knüpft er an vorderorientalische Redetraditionen an. In Sumer, Akkad, Assyrien und auch Neubabylonien ist Hirt ein festes Attribut für den König und für Gott. Bei Ezechiel ist es keine höfi sche Formel, sondern das Bild behält noch seine Anschaulichkeit. Ez 34 beschreibt ausführlich die Tätigkeit des Hirten negativ (Vv1–10) und positiv (Vv11– 22) und widmet sich auch Unterschieden innerhalb der Herde (Vv17–22). König David (Vv23–24) und das Friedensreich (Vv25–30) wenden das Bild in einer Geschichtsutopie an. V31 ist die Zusammenfassung. Um die Aussage zu verstehen lohnt es sich, das ganze Kapitel, über die Lesungsperikope hinaus, in den Blick zu nehmen.

Die schlechten Hirten werden in V2 beschreiben: Sie weiden sich selbst (darf man hier heute an überdimensionierte Verwaltungen denken?). In V3 beuten sie die Herde aus, nehmen Milch, Wolle und Fleisch an sich (Ist das die Frage nach den Managergehältern?). Sie bringen dafür keine Gegenleistung. Sie tun nichts von dem, was sie sollten (V4): «Die Schwachen nicht gestärkt, das Kranke nicht geheilt, das Verletzte nicht verbunden, das Verirrte nicht zurückgebracht, das Verlorene nicht gesucht».

Der gute Hirte führt seine Schafe zurück auf die gute Weide (Vv12.14). Er erfüllt seine Pflicht (V16): «Das Verlorene wird gesucht, das Verletzte verbunden, das Kranke gestärkt.» Das ist die spiegelbildliche Umkehrung der Versäumnisse der schlechten Hirten aus V4.

Ein weiterer Aspekt ist das Richten innerhalb der Herde (Vv17–22). Der Hirte ist gefordert, die Starken und Rücksichtslosen zu bremsen, und für die Schwachen, deren Lebensbedingungen sie zerstören, zu sorgen.

Das Bild ist nun klar gezeichnet, die Lebenswelt eines wirklichen Hirten steht vor Augen.

Für Israel ist dieses Bild des Zusammenführens der Schafe auf der guten Weide die Rückführung Israels aus dem Exil, mit der Hoffnung auf den Hirten David. Das ist der Unterschied zu den Vorstellungen der alten Königsideologien: Dort hatte das Königtum eine kosmische Dimension, hier geht es um Geschichte. Die Sammlung Israels ist ein geschichtliches Ereignis, das Reich des neuen Davids eine politische Grösse. Auch die Richterfunktion des Hirten ist nicht das endzeitliche Gericht. Er will die Schwachen fördern, nicht die Starken bestrafen (Vv20.22: «Ich selbst sorge für Recht … Deshalb will ich meinen Schafen zu Hilfe kommen»). Es geht um die Erstellung eines friedvollen Reiches im Hier; daran können auch Menschen mitarbeiten, wie die Nennung von David zeigt, und Menschen können es verzögern und verhindern, wie die schlechten Hirten, die als Könige abgesetzt werden.

Ein weiterer Interpretationsschlüssel ist V31 nach dem hebräischen (und lateinischen) Text: «Ihr aber seid meine Schafe, Schafe meiner Weide, Menschen seid ihr – ich aber bin euer Gott.» (LXX, und in diesem Fall ihr folgend die Einheitsübersetzung, haben das Wort «Menschen» nicht.) Raschi kommentiert die Stelle: «Ihr seid nicht wie Tiere in meinen Augen, und daher bin ich euer Gott. Ihr seid Menschen mit der Verantwortung, die auf Menschen lastet.» Ähnlich R. Ch. Rabinowitz: «Ihr seid Menschen – das ist nicht nur ein Lob, sondern es bedeutet das Auferlegen der Verantwortung.» Zwischen Gott und dem Menschen entsteht eine innige Interaktion. Diese zu verstehen hilft das Bild des Hirten.

Wenn Gott die Hingabe an seine Führung von euch fordert, so bedeutet die Erfüllung dieser Forderung in Wahrheit nichts anderes als die Rückkehr zur wahren, ursprünglichen Menschenbestimmung: Nur als «meine Schafe» seid ihr Menschen! Da muss Gott «euer Gott» sein. Sobald man wirklich versteht: «Ich bin euer Gott», ist man nicht mehr Schaf, sondern wahrhaft Mensch.

Warum dann das Bild des Schafs, fragt der Midrasch und zitiert Rabbi Jochanan: «Schafe, wenn es um die Bestrafung geht, und Menschen, wenn es um die Belohnung geht. Ist Israel schuldig, so behandelt Gott sie als Schafe, damit sie wie Schafe nicht bestraft werden. Haben sie aber Gutes getan, so behandelt er sie als Menschen.»

Politische Sprengkraft bekommen die Aussagen, wenn man das gezeichnete Bild in seiner Umkehrung betrachtet: Menschsein heisst, einen Anspruch auf einen guten Hirten zu haben – und ist damit wieder beim Christkönigsfest, bei dem es nicht um den König, sondern um die Menschen geht.

Mit der Kirche lesen

Das Bild des guten Hirten in Johannes 10 bekommt seine Kontur erst durch Ez 34, der auch die negative Variante des Hirten zeigt. Der Richter im Tagesevangelium Mt 25 hat keinen Anhalt bei Ezechiel. Im Gegenteil, Ezechiel zeigt, dass Gott kein strafender Richter der Endzeit ist, sondern ein sorgender Gott im Hier und Jetzt. Mit Ezechiel ist das in Matthäus beschriebene anbrechende Reich in der Geschichte zu sehen.

Matthäus entlehnt bei Ezechiel die Idee der Aufzählung von einzelnen guten Taten für: Hungrige, Durstige, Fremde, Nackte, Kranke, Gefangene. Das ist die menschliche Variante der bedürftigen Schafe in Ez 34,4.16. Von dort wird übernommen, dass es solche Menschen gibt, die helfend eingreifen, und es andere gibt, die es nicht tun. Überträgt man die Idee Ezechiels, dass das helfende Eingreifen von Gott kommt, dann kann in Mt gelesen werden, dass Gott durch helfende Menschen in der Geschichte wirkt und durch sie sein Reich baut, das die Präfation von Christkönig so beschreibt: Das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens.