Wir beraten

Luft, Wasser, Erde, Tradition und Liebe   

Peter Zürn zur Lesung am 32. Sonntag im Jahreskreis SKZ 44/2008

Alttestamentliche Lesung: Ez 47,1–2.8–9.12
Neutestamentliche Lesungen: 1 Kor 3,9c–11.16–17; Joh 2,13–22

Wasser kommt unter der Schwelle eines Hauses hervor. Wer ein Haus besitzt, denkt sofort entsetzt an Rohrbruch und Wasserschaden. Wer das Neue Testament kennt, erinnert sich eventuell an das Gleichnis vom klugen und vom törichten Mann, die ihre Häuser auf Fels beziehungsweise auf Sand bauen und welchen Unterschied das macht, wenn die Wassermassen anfluten (Mt 7,24–27). Und Eltern kommt vielleicht die Geburt ihrer Kinder in den Sinn, die mit dem Herausströmen des Fruchtwassers begann und neues Leben ans Licht der Welt brachte. Auch der Prophet Ezechiel sieht in der heutigen Lesung Wasser unter der Schwelle eines Hauses, des Tempels, hervorströmen. Woran denkt er dabei?

Mit Israel lesen

Für einmal kann man der Zerstückelung des alttestamentlichen Textes durch die Leseordnung etwas abgewinnen. Ihr Textfragment entspricht weitgehend dem, was Exegeten als Grundschicht des Textes betrachten.1 Wenn wir uns aber auf diesen Textausschnitt begrenzen, verpassen wir die produktive Frage, wie später am Tempelbild Ezechiels weitergebaut wurde.

Am Buch Ezechiel wird ein Merkmal biblischer Texte besonders deutlich. Es ist voller Anspielungen auf andere Texte und Traditionen. Ezechiel kannte die traditionelle und zeitgenössische Literatur auffallend gut.2 Das Bild von einer Quelle oder einem Strom, die in der kommenden Heilszeit vom Tempel bzw. von Jerusalem ausgehen, findet sich häufig in der Bibel. Joel 4,18 sieht Wein, Milch und Wasser fliessen, in Sach 14,8 teilt sich der Strom in zwei Hälften. Nach Ps 46,5 ist das Wasser in der Gottesstadt bereits jetzt Zeichen für Gottes Gegenwart. Das Motiv weist zurück an den Anfang, erinnert an Ursprungsgeschichten. Es geht zurück auf den Strom, der im Garten Eden entspringt und sich in vier Flüsse teilt (Gen 2,8–14). Auch die Bäume, die in Ez 47 wachsen, stammen aus diesem Garten. Der Garten Eden ist verloren, aber in Jerusalem sind nach Ps 46 Spuren des Paradieses zu finden, mehr noch: zu erfahren und zu geniessen. Und in der kommenden Heilszeit werden die paradiesischen Köstlichkeiten wieder in Fülle und Vielfalt fliessen.

Diese Vorstellungen teilt Israel mit seiner altorientalischen Umwelt. Flüsse gehören zum Bild des urzeitlichen und des zukünftigen Paradieses und entsprechend wurden bei vielen Tempelanlagen Teiche oder Wasserbecken angelegt. Silvia Schroer zeigt eine Wandmalerei aus dem Ischtar-Tempel von Mari (um 1750 v. u. Z.), auf der unter dem Tempel eine Quelle sprudelt, die von zwei Quellgöttinnen symbolisiert wird und deren Wasser den Tempelhof zu einem Paradiesgarten macht.3

Im salomonischen Tempel stand das sogenannte «eherne Meer» (1 Kön 7,23–26), ein riesiges Wassergefäss. Es symbolisiert das lebensbedrohliche Chaoswasser, das durch Gottes Schöpfungswerk gebändigt wurde und immer wieder gebändigt wird, so dass die Schöpfung Ort des Lebens bleibt. Im nachexilischen Tempel gab es das eherne Meer nicht mehr, die Erinnerung an seine Bedeutung ging verloren (vgl. 2 Chr 4,6). Auch in Ezechiels detailgenauer Tempelvision (40,1–44,3) kommt es nicht vor. Der visionäre Tempelbaumeister fürchtet keinen Wasserschaden. Das Wasser hat für ihn keine chaotische und bedrohliche Bedeutung, es steht allein für lebensspendende Fruchtbarkeit. Vielleicht gleicht Ezechiel in seiner Begeisterung den Müttern und Vätern, die in der Freude über ein neugeborenes Kind Schmerzen und Ängste während der Geburt vergessen. Mir selber ist allerdings immer noch sehr gegenwärtig, wie nahe gerade bei einer Geburt Leben und Tod beieinander liegen.

Ezechiel betrachtet die Fruchtbarkeit des Wassers mit den Augen eines Landwirts und Heilers. Er sieht, wie das Wasser «allem, was sich regt» (47,9 – eine Anspielung auf Gen 1) Lebensmöglichkeiten schafft. Er sieht die Obstbäume mit ihren Früchten und ihren Blättern als Heilmittel (47,12). Wenn die Verse 10 und 11 spätere Bearbeitungen sind, dann bringen sie den Blick von Fischerinnen und Fischern und vielleicht den von Hausfrauen und Hausmännern ein. Vers 11 ist dann eine Korrektur an der überfliessenden Vision Ezechiels. Ein Teil des «toten» Meeres soll nicht vom Wasser aus dem Tempel «gesund» gemacht werden (47,8), denn das Salz der Lachen und Tümpel ist ein ebenso kostbares Lebensmittel.

Ezechiel sieht Fruchtbarkeit und neues Leben in Fülle – von Geburten spricht er nicht. Ist er auch von der «Geburtsvergessenheit» der theologischen Tradition betroffen, die Ina Prätorius zu Recht beklagt?4 Die jüdische Philosophin Hannah Arendt hat das Geborensein als Ausgangspunkt ihres Nachdenkens über die Menschen und ihr Dasein in der Welt genommen. Ina Prätorius greift das auf und folgert: «Wir alle kommen aus lebendigem Leib und bleiben zeitlebens abhängig von Luft, Wasser, Erde und allem, was sie hervorbringen, von anderen Menschen, von Tradition und Liebe … alle bleiben, bis sie sterben, verwoben in den Leib der Welt: in den Kosmos, in die Sprache, ins Herkommen, ins Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten.»5

Die Vision von der Tempelquelle aus dem Buch Ezechiel weiss um unsere Abhängigkeit von lebendigem Wasser und anderen Elementen der Schöpfung. So wie sie gestaltet ist, ist sie Ausdruck unserer Verwobenheit in die Tradition, aus der wir kommen, ihrer Sprache, ihren Bildern und Texten. Die Vision wird selbst zur Tradition und ermöglicht es anderen, an ihr anzuknüpfen, weiter an ihr und mit ihr zu arbeiten, auch ergänzend und korrigierend. All das ist unausgesprochen eingebunden in Gott, der im Lesungstext nicht explizit vorkommt. Die Wahrnehmung von all dem, in das wir hineingeboren werden – Luft, Wasser, Erde, Tradition und Liebe führt uns zu Gott, der umfassenden Quelle. Vielleicht tauchen wir wie Ezechiel erst knöcheltief ein, dann knietief und bis zur Hüfte, und schliesslich lernen wir schwimmen.

Mit der Kirche lesen

Die neutestamentlichen Texte bauen an den Vorstellungen vom Tempel weiter. Für Paulus sind die Menschen in der Gemeinde von Korinth der Ort von Gottes Gegenwart. Der Tempel, an dem er mitbaut, steht auf gutem Grund (wer weiss, ob auch ihm das Gleichnis von den beiden Bauherren bekannt war). Wie Ezechiel baut er an etwas weiter, was vor ihm bestand und wie bei Ezechiel wird an Paulus Bau von anderen weitergebaut. Auch Jesus baut an den Vorstellungen vom Tempel und scheut nicht vor Abrissarbeiten zurück. Seine Aggressivität schaff t gleichsam den chaotischen Kräften des ehernen Meeres bzw. der Chaosmächte wieder Raum im Tempel. Tohuwabohu geht der Schöpfung voraus und begleitet sie als produktive, aber auch als gefährliche Kraft. Auch Jesus knüpft an Traditionen an. Der Psalm, aus dem er zitiert (69,10), beginnt als Klage eines Menschen, der im strömenden Wasser zu versinken droht (V. 2). Er endet mit der Hoff nung auf die Rettung Zions, wofür die Meere Gott rühmen (V. 35). Am 9. November erinnert eine Veranstaltung in Wislikofen an den Grenzübergang Rhein, der vor 70 Jahren Rettung oder Tod bedeuten konnte.6

1 Z.B. bei H. F. Fuhs: Ezechiel II 25–48. Die Neue Echter Bibel. Würzburg 1988, 257.
2 Moshe Greenberg: Ezechiel 1–20. Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Freiburg i. Br. u. a. 2001, 39.
3 Silvia Schroer: Glücklich, wer Lust hat an der Weisung JHWHs. Illustrierte Kurzkommentare zur ersten Sonntagslesung. Fribourg 1998, 154 f.
4 Ina Prätorius: Das Geborensein erinnern. Für Hannah Arendt in: Dieselbe: Gott dazwischen. Eine unfertige Theologie. Ostfildern 2008, 29.
5 Ebd. 33.
6 Näheres zu «Am Übergang» unter www.propstei.ch