Wir beraten

Save our souls!   

Dieter Bauer zur Lesung an Allerseelen SKZ 43/2008

Alttestamentliche Lesung: Weisheit 3,1–9
Evangelium: Joh 6,37–40

«SOS» – der vor 100 Jahren offiziell eingeführte internationale Notruf mit seiner gängigen Interpretation «save our souls» erinnert daran, dass es dabei nicht etwa um «Seelenrettung» geht, sondern um ganz konkrete Lebensrettung. Was noch 1908, als dieser Notruf festgelegt wurde, für viele ganz selbstverständlich war, nämlich dass die «Seele» selbstverständlich den ganzen Leib umfasst – was anders soll denn aus dem Wasser gezogen werden? –, ist im heutigen Allgemeinbewusstsein weithin verloren gegangen. Da wird fein säuberlich platonistisch unterschieden zwischen einem sterblichen Leib und der unsterblichen «Seele». Und gerade am Fest «Allerseelen», wo wir unserer Verstorbenen gedenken, ist dieses Verständnis natürlich wieder sehr präsent.

Mit Israel lesen

So klingt der Beginn der alttestamentlichen Lesung im Kontext des Festes «Allerseelen» zunächst tatsächlich wie ein Blick auf die Verstorbenen:
Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand / und keine Qual kann sie berühren (Weish 3,1).
Trotzdem wäre es ein Missverständnis zu meinen, im Buch der Weisheit liesse sich bereits dieser platonistische Leib-Seele-Dualismus finden, der sich dann in der christlichen Kirche durchgesetzt hat. Für den orientalischen Menschen nämlich ist die «Seele» nicht der Teil von einem Ganzen, das aus «Leib und Seele» bestünde, sondern der ganze Mensch. Das hebräische Wort nefesch heisst wörtlich «Kehle» und meint den ganzen bedürftigen und begehrenden Menschen (vgl. Gen 2,7: «Da formte JHWH Gott den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch eine lebendige nefesch»). Für heutige Ohren verständlich müsste man V. 1 also übersetzen: «Die Gerechten sind in Gottes Hand». Und selbstverständlich geht es (noch) nicht um Verstorbene, sondern um Lebende!

Vom «Sterben» ist eigentlich erst im kommenden Vers die Rede. Und selbst da wird das Gestorbensein als «subjektive Sicht» der «Toren» eingeführt:
In den Augen der Toren sind sie gestorben, / ihr Heimgang gilt als Unglück, ihr Scheiden von uns als Vernichtung; / sie aber sind in Frieden (3,2 f.).
Wir merken, dass unsere vermeintlich klare Trennung von Tod und Leben «töricht» ist. Für den glaubenden Menschen gelten andere Massstäbe. Da kann jemand lebendig tot sein oder auch tot sein und doch leben. Auch die im Christentum so geläufige Vorstellung von einer Unsterblichkeit der (rein geistigen) Seele findet sich hier noch nicht. Das Buch der Weisheit hoff t zwar auf ein Sein-Können des Gerechten bei Gott (auch) nach dem Tod, malt diesen Vorgang aber nicht weiter aus. Vor allem aber ist dieses «Weiterleben nach dem Tod» ein freies Geschenk Gottes und nicht eine Automatik (s. u.). Den «Frevlern» jedenfalls ist solches nicht vergönnt, wie wir aus den unserer Lesung folgenden Versen erfahren können (3,10 ff .).

Man hat zwar – v. a. auf Grund der Verse 3,4–9 – in das Buch der Weisheit auch hineingelesen, dass es so etwas wie ein «Fegefeuer», eine Zwischenphase der leiblosen Seele zwischen dem Zeitpunkt des Todes und dem Jüngsten Gericht kenne; das wäre aber ebenfalls ein Missverständnis. Das Jüngste Gericht ist aus biblischer Sicht kein «Endzeitspektakel», sondern ein Bild für das Kommen des Menschen vor Gott mit allen Konsequenzen.

Das Buch der Weisheit glaubt zwar an die Weiterexistenz des (ganzen) Menschen über die Grenzmarke des Todes hinaus, allerdings nicht in einer Art Unterwelt (Hades, Scheol o. ä.), sondern als Gemeinschaft mit Gott. Dafür, wie diese Weiterexistenz aber aussieht, ist der Mensch selbst während seines Lebens verantwortlich, indem er den «Weg der Gerechtigkeit» geht (das nämlich bedeutet «Gericht»: Gott entscheidet darüber nach dem Tod). Die «Frevler» haben diese Chance verspielt und müssen in die Gottesferne.

Allerdings ist diese Stimme des Buches der Weisheit nur eine in der grossen biblischen und v. a. ausserbiblischen Symphonie von Auferstehungsvorstellungen. So kennt z. B. auch das Danielbuch eine zweifache Auferstehung für «die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu» (Dan 12,2), also eine Art «Totengericht», wie es in Ägypten schon seit Jahrtausenden erwartet wurde.

Dieses Gericht sollte die im irdischen Leben fehlende Gerechtigkeit schaff en. Diese fehlende Gerechtigkeit ist ganz offensichtlich der Anstoss für den biblischen Auferstehungsglauben – auch des Buchs der Weisheit! – geworden. Wo diese Gerechtigkeit im irdischen Leben nicht herzustellen war, trauten die Frommen Gott die Möglichkeit zu, Gerechtigkeit auch jenseits der Grenzmarke des Todes zu schaff en. Es ist also an keine Auferstehung aller Toten gedacht! «Viele … von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden … erwachen » heisst es in Dan 12,2, nicht «alle». Eine wirklich «ausgereifte» Vorstellung über das Jenseits, etwa über Himmel und Hölle, gibt es im Alten Testament noch nicht. Eher zaghaft nimmt es zuerst einmal eine Auferstehung der Gerechten in den Blick. Und wenn das Buch der Weisheit sagt, dass die Gemeinschaft mit Gott das «ewige Leben» bedeute, dann meint es, dass die Weisheit zu Gott führt: Das Leben mit der Weisheit bringt Unsterblichkeit (Weish 8,17).

Mit der Kirche lesen

Unser Text aus dem Johannesevangelium interpretiert diesen «Weg der Gerechtigkeit» bzw. ein «Leben mit der Weisheit» als «Glauben », was ganz auf der Linie alttestamentlicher Theologie ist. Das «ewige Leben», das Menschen im Glauben an Jesus Christus gewinnen, besteht in der Nachfolge des «Weges der Gerechtigkeit », den Jesus vorausgegangen ist und wodurch er sich als Sohn des Vaters (6,40) erwiesen hat. So können auch wir Söhne und Töchter des Vaters werden und Gemeinschaft finden mit ihm – auch über die (vermeintliche) Grenzmarke des Todes hinaus.

Das Buch der Weisheit

Das Buch der Weisheit ist das jüngste Buch des Alten Testaments (entstanden in Alexandrien kurz nach der Zeitenwende im 1. Jh. n. Chr.) und hat deshalb auch keine Aufnahme in den jüdischen Kanon gefunden. Nach der römischen Eroberung Ägyptens 30 v. Chr. hatten besonders Randgruppen wie die zahlreiche jüdische Gemeinde den Fremdenhass zu spüren bekommen. In dieser Situation griff der uns unbekannte Autor zur Feder. Am Beginn der neuen Ära erhebt er die Stimme der Vernunft. Als «Zielgruppe» hat er vor allem zwei Gruppierungen innerhalb des Judentums seiner Zeit vor Augen: 1. Diejenigen, die sich dem Hellenismus und seiner Kultur bereits total angepasst hatten und bei denen er die Gefahr sieht, dass sie ihre jüdische Identität vollends verlieren. 2. Die gläubigen Diasporajuden, denen er neu ihre Quellen zu erschliessen versuchte, damit sie – angefeindet von der antisemitischen Umwelt und den eigenen Glaubensgenossen, die die Orthodoxen (wieder einmal) für rückschrittlich hielten – neue Hoffnung schöpfen konnten. So versucht unser Verfasser nicht nur den interreligiösen Dialog, sondern auch den innerjüdischen.

Literaturtipps:
Helmut Engel: Das Buch der Weisheit (Stuttgarter Neuer Kommentar AT Bd. 16). Stuttgart 1998. Bibel und Kirche 52 (1997), Nr. 4: Das Buch der Weisheit.