Wir beraten

Das Wichtigste in Kürze   

André Flury-Schölch zur Lesung am 30. Sonntag im Jahreskreis SKZ 42/2008

Alttestamentliche Lesung: Ex 22,20-26
Evangelium: Mt 22,34-40

Was würden Sie antworten, wenn Sie von jemandem gefragt würden: Was ist das Wichtigste im Leben? Worauf kommt es im Glauben an? Jesus wurde diese Frage gemäss dem heutigen Evangelium und seinen Parallelen bei Mk/Lk einmal gestellt. Seine Antwort: «Liebe Gott … und deinen Nächsten wie dich selbst», zitiert zwei Stellen aus dem Alten Testament (Dtn 6,5; Lev 19,18) und zeigt damit, wie sehr die Torah (»Gesetz»; grie. «nomos») für Jesus das Wort Gottes war, wie sehr Jesus Jude war.1
Jesu Antwort verlangt, da sie sehr allgemein/grundsätzlich ist, nach Aktualisierung und Konkretisierung: Was heisst es konkret, «Gott zu lieben»? Wer ist mein/unser «Nächster»? Was bedeutet es, in einer bestimmten Situation, einen Mitmenschen zu «lieben»? Wie verhält es sich mit der «Selbstliebe»? Fragen, denen hier nicht ausführlich nachgegangen werden kann.2 Neben der Lebenspraxis Jesu und jener der urchristlichen Gemeinden sind wir gerade beim matthäischen Jesus auch in der Frage der Konkretion von Gottes- und Nächstenliebe wiederum auf das AT verwiesen: Nach Mt 5,17-20 verlangt Jesus, auch die «kleinsten Gebote» der Torah zu «halten und lehren».
Während im NT recht häufig auf der Ebene einer Gesinnungsethik formuliert wird, so stellt sich das AT immer wieder die Aufgabe, den Willen Gottes nach «Recht und Gerechtigkeit» zu konkretisieren und in rechtsgültige Sätze zu fassen. Die 248 Gebote und 365 Verbote (= insgesamt 613) des ATs können daher als Konkretionen der Gottes- und Nächstenliebe verstanden werden.

Mit Israel lesen

Die Lesung stammt aus dem wahrscheinlich ältesten Rechtsbuch des ATs, dem sog. Bundesbuch (Ex 20,22–23,33). Dieses ist wohl nach der Zerstörung des Nordreichs «Israel» durch die Assyrer (722v.Chr.) entstanden und versucht, auf die Schrecken des Krieges und der Zerstörung (Witwen/Waisen; Flüchtlinge/Fremde/Sklaven; soziale Ungerechtigkeiten usw.) zu antworten sowie religiös-gesellschaftliche Identität zu schaffen.3 Es werden im Bundesbuch theologisch-ethische Weichen gestellt, welche einen grossen Einfluss auf die nach und nach entstehende Torah, aber auch auf die spätere jüdisch-christliche Tradition haben werden. So ist im Bundesbuch bereits grundgelegt, was später in die Begriffe der Gottes- und Nächstenliebe sowie der Feindesliebe gefasst werden wird.
Gottesliebe: Dem Begriff nach nennt das Bundesbuch die Liebe zu Gott nicht, doch die Forderung nach Alleinverehrung JHWHs, die das Bundesbuch wie ein roter Faden durchzieht (Ex 20,23; 22,19; 23,13.24.32f), kann durchaus als Vorläufer für die später verlangte Gottesliebe (Dtn 6,5; 10,12 u.ö.) angesehen werden. Geschichtlich begründet ist die Alleinverehrung mit der Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten (im Bundesbuch angedeutet: Ex 22,20; 23,9.15): Allein der Gott JHWH, der aus jeder Sklaverei befreit, soll verehrt werden. Die «»šPräambel’: «Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus» (Ex 20,2; Dtn 5,6), ist entscheidend für die Auslegung der Zehn Worte wie auch der anderen Gebote. Andern Göttern, d.h. solchen, die in neue Unfreiheit und Sklaverei führen, soll Israel nicht folgen. Von daher gelesen, dienen die Gebote Gottes der Bewahrung der mit dem Exodus gewonnenen Freiheit. Da die Bewahrung dieser Freiheit nicht nur auf das Kollektiv oder den andern Menschen bezogen ist, sondern auch auf die je eigene Person, kann in ihr durchaus auch der Aspekt der Selbstliebe gesehen werden. Später wird man sagen können: JHWH zu lieben heisst, «auf seinen Wegen zu gehen und seine Gebote zu halten» (Jos 22,5; vgl. Dtn 11,13.22; 19,9). Damit korrespondiert die Liebe Gottes zu Israel, seinem Volk (vgl. Dtn 7,8.13; 10,15 u.ö.).
Nächstenliebe: Die Alleinverehrung JHWHs steht bereits im Bundesbuch in einem unlösbaren Zusammenhang mit einer zwischenmenschlichen Gerechtigkeit, die sich an den rechtlich und sozial Schwächsten orientieren muss. Deren Schutz und Recht fordert der Lesungstext Ex 22,20-26: An erster Stelle werden die «Fremden» genannt, die nicht ausgebeutet werden dürfen (22,20; vgl. 23,9.12). «Fremde» sind Menschen, die an einem Ort dauerhaft wohnen, an dem sie nicht aufgewachsen sind und keine Verwandtschaft und keinen Grundbesitz haben. Zu «Fremden» wird man v.a. aufgrund von Hungersnöten (vgl. Gen 12,10; 26,3; 47,4; Rut 1,1; 2Kön 8,1) oder Kriegen (vgl. 2Sam 4,3; Jes 16,4). Wie Frauen, Kinder und Sklaven können Fremde ihre Stimme in damaligen Rechtsprozessen nicht selber erheben. Gottes Forderung nach Schutz der Fremden ist also ein Recht für Rechtlose. Der Schutz für Fremde gilt unabhängig ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit!
An zweiter Stelle werden die «Witwen und Waisen» genannt (20,21-23), die in einer patriarchalen, auf das Hauswesen aufgebauten Sozialstruktur in besonderer Weise Opfer von Ausbeutung werden. JHWH hört ihr Schreien – wie jenes des «ganzen Volkes» in Ägypten (Ex 2,2,23f) – und droht ihren Unterdrückern mit einer Gerechtigkeit, die im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs verstanden wird: Wer Witwen und Waisen ausnützt, dessen Angehörige sollen selbst zur Witwe / zu Waisen werden.
An dritter Stelle werden die «Arme» genannt (20,24-26). Es handelt sich hier um das älteste biblische Wirtschaftsrecht. Dieses setzt beim Kern der sozialen Abhängigkeit an: beim Schuldwesen. In der Sache wird gefordert, gegenüber materiell Armen erstens auf die sonst übliche Pfandnahme zu verzichten bzw. ihnen das lebenswichtige Pfand (z.B. den Mantel für die Nacht) wieder zu geben. Zweitens soll ihnen kein Zins (EÜ schwächt ab: kein Wucherzins) auferlegt werden. Zinslose Darlehen gegenüber Armen gelten also bereits in der ältesten Rechtssammlung des ATs als gottgewollte Gerechtigkeit. Die Begründung dafür: Denn JHWH ist «gnädig» / hat «Mitleid» (20,26).
Dies alles ist praktisch angewandte Nächstenliebe. Sie hat sich an den rechtlich und sozial Schwächsten auszurichten und gilt ohne Ansehen von Religions- oder Volkszugehörigkeit. In späteren Texten wird dies weiter entwickelt werden: Im Heiligkeitsgesetz (Lev 17,1-26,46) wird das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18), die sich auf Menschen innerhalb der israelitischen Volksgemeinschaft bezieht, ergänzt mit der Liebe zum Fremden (19,33f). Infolge dessen wird die Rechtsgleichheit von Israeliten und Fremden gefordert (Lev 24,10ff; Num 15,14ff). Im Dtn wird die Liebe Gottes zum Fremden ausgesagt und daraus die Forderung abgeleitet, den Fremden zu lieben, d.h. konkret: ihm Nahrung und Kleidung zu geben (10,18f).
Auch die Feindesliebe findet sich der Sache nach bereits im Bundesbuch, wenn es in Ex 23,4 heisst: «Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen» (vgl. 23,5).

Mit der Kirche lesen

Aufgrund all dessen erstaunt es nicht, dass Jesus, nach dem Wichtigsten gefragt, nicht etwas Neues lehrt, sondern zwei Stellen aus der Torah zitiert: (1) Mit «liebe Gott …» Dtn 6,5, ein Teil des sog. «Schema Israel» (»Höre, Israel»), das zu den zentralen Gebeten der jüdischen Tradition geworden ist. (2) Mit «liebe deinen Nächsten wie dich selbst» Lev 19,18. Die ntl. Parallelstellen weisen zahlreiche Aktzente auf, von denen hier nur einige kurz genannt werden können: a) In Mk 12,29f (dem ältesten Ev) zitiert Jesus das «Schema Israel» umfassender als bei Mt/Lk. b) In Mk 12,32 gibt der jüdische Schriftgelehrte Jesus Recht. c) In Lk 10,27 nennt nicht Jesus, sondern der jüdische Gesetzeslehrer selbst das Doppelgebot der Liebe. d) Bei Lk wird die Frage: «Wer ist mein Nächster» mit der Beispielerzählung des «»šfremden’ Samariters beantwortet (Lk 10,25-37). e) Nach Mt 22,40 «hängt das ganze Gesetz samt den Propheten» an der Gottes- und Nächstenliebe. Dies erinnert an Mt 5,17 und 7,12: Jesus erfüllt «das Gesetz und die Propheten» und diese finden in der Goldenen Regel ihr Zentrum. f) Die Aussage von Mt 22,39: «Ebenso wichtig ist das zweite» (V39), lautet wörtlicher übersetzt: «Das zweite ist ihm aber gleich». Mt betont, dass Gottes- und Nächstenliebe unabdingbar zusammengehören, womöglich sogar identisch sind (vgl. Mt 25,31-46).

1 Nach wie vor inspirierend: Schalom Ben Chorin: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München 1967; weiter Jacob Neusner: Ein Rabbi spricht mit Jesus. Ein jüdisch-christlicher Dialog. München 1997.
2 In systematischer Hinsicht anregend: Franz-Josef Nocke. Liebe, Tod und Auferstehung. Die Mitte des christlichen Glaubens. München 42005; zur Auslegung und Wirkungsgeschichte von Mt 22,34-40: Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus (EKK 1/3). Neukirchen-Vluyn 1997, 269-285.
3 Grundlegend: Frank Crüsemann: Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes. Gütersloh 21997, 132-234.