Wir beraten

Hat die Welt Anspruch auf Lebensfreude?   

Winfried Bader zur Lesung am 27. Sonntag im Jahreskreis SKZ 39/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 5,1–7 (Mt 21,33–44)
Wer den Wein nur abgefüllt in Flaschen kennt, wird vielleicht seinen Geschmack schätzen oder ihn verächtlich als Droge abtun. Wer jetzt im Spätsommer ein Weinfest in einem Anbaugebiet besucht hat, wird die Lebensfreude erahnen, die im Wein zum Ausdruck kommt. Aber nur wer selbst schon im Weinberg gearbeitet hat, weiss den Grund dafür. Es ist die mühevolle Arbeit, sie wandelt sich in diese tiefe Freude.

So präsentiert uns das Kirchenjahr pünktlich zur Weinlese das Bild des Weinbergs in Lesung und Evangelium. Vorweg schon kann betont werden, dass die Auslegung, die auf viele andere Details zu achten hat, nur verstanden wird, wenn die Aussage des Bildes, die grosse Lebensfreude, zentral bedacht und meditiert wird.

Mit Israel lesen

«Ich will singen vom Weinberg meines Geliebten» beginnt Jesaja. Seine Hörerinnen und Hörer in Jerusalem werden bei der Ankündigung eines Liedes, gar noch eines Liebesliedes, vielleicht, genauso neugierig aufgehört haben, wie wir heutige LeserInnen es tun, die wir den Text wegen der üblichen Überschrift «Weinberglied» gern haben.

Der Weinberg des Freundes liegt auf einem «fetten Horn», so beginnt Jesaja zu singen. Bei diesem Berghorn dürfen wir wohl weniger an einen steil aufragenden Berg denken, wie das Wetterhorn, Schreckhorn oder Matterhorn in unseren Schweizer Alpen, sondern eher an das, was man im Mittelgebirge Berghorn nennt, ein Tafelberg, der sich in die Ebene hinaus erstreckt. Es folgt eine Beschreibung von fünf mühevollen Tätigkeiten, die der Freund an seinem Weinberg vornimmt. Die positive Stimmung des Eingangssatzes, der mit den beiden zentralen Wörtern sir und gôd an das Hohelied erinnert, legt die Assoziation von Liebesdiensten des Freundes an seinem Weinberg nahe. Er gräbt, entsteint, pflanzt, baut und schlägt eine Kelter. Es sind die Tätigkeiten des Weinbauern, die auch heute noch das ganzer Jahr mühsam getan werden müssen und die Grundlage für die überschwängliche Freude über eine guten Ernte und den fertigen Wein führen. Die fünf Tätigkeiten werden zunehmend mit immer mehr Wörtern beschrieben: die ersten beiden sind je nur ein Wort, dann sind es 2, 3 und 4. Verrät dieses Breiter-werden der Sprache die zunehmende Mühe oder ist es eine Steigerung des Sprechtempos, die das Engagement des Freundes oder auch seine Ungeduld zeigt, endlich die Ernte zu bekommen? Verwundert darf man sein, dass er mit der Kelter bereits an die Weiterverarbeitung der Ernte denkt. Geht er da nicht zu weit? Ist es nicht ein schlechtes Omen und Zeichen einer Machbarkeitsideologie, wenn man das Ergebnis bereits als gesichert annimmt, bevor es eingetreten ist? Ist die Hoffnung, die er hat, die kühle Berechnung eines Wirtschaftsmanagers, der seinen «return on invest» selbstverständlich erwartet?

«Er hoffte, dass er Trauben bringt, und er brachte Herlinge» (Jes 5,2b) ist das jähe negative Ende dieses kurzen, nur 22 Wörter umfassenden Lieds. Ein Bauer in Israel ist gewohnt, dass eine Ernte ausbleibt, wenn der Regen fehlt. Aber wenn die Bedingungen stimmen, die Trauben wachsen, dann aber schlecht und nicht verwendbar sind, weil an den Trauben nicht das Fleisch, sondern vor allem die Steine zu sehen sind, ist es schlimmer als nichts. Die grosse Hoffnung ist durchkreuzt. War sie berechtigt?

Dies ist die Frage, die Jesaja den Richtern vorlegt. Wörtlich wird in Jes 5,4b Jes 5,2b zitiert und davor ein grosses Warum gesetzt: «Warum: Ich hoffte, dass er Trauben bringt, und er brachte Herlinge?» Wie ist dieses Warum zu beziehen, was wird in Frage gestellt? Die Grammatik legt nahe, das Warum auf das zweite Verb zu beziehen. Die Frage geht dann an den Weinberg und lautet: «Warum hat er Herlinge gebracht?» (Lutherbibel: «Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte?»). Es ist die alte Frage nach dem Schlechten in der Welt.

Die Wortstellung gibt Argumente, das Warum auch auf das erste Verb zu beziehen. «Warum hoffte ich denn auf süsse Trauben? Warum brachte er nur saure Beeren?» (Einheitsübersetzung). Das ist die Frage nach dem Grund der eigenen Hoffnung, angesichts der vielen schlechten Erfahrungen. Führt man diesen Gedanken weiter und betrachtet nur noch den ersten Teil, wird die Frage zur fundamentalen Selbstkritik. Warum nur, habe ich durch den Bau der Kelter bereits eine grosse Ernte erwartet? Ist eine solche Erwartung berechtigt? Sehe ich die Welt nicht zu einfach, wenn ich mit meinem Handeln gute Früchte erzwingen will? Muss ich umdenken lernen und erkennen, dass gerade ein Gut wie Lebensfreude sich nicht durch eine berechnende Investition automatisch erzwingen lässt?

Die ZuhörerInnen werden rhetorisch geschickt miteinbezogen, indem man sie zum Richter über diese Frage macht. Der Prophet redet inzwischen von «meinem Weinberg» (Jes 5,3), der Besitzer des Weinbergs wird später mit Gott identifiziert (angedeutet in Jes 5,6b – nur Gott kann über den Regen herrschen – und direkt Jes 5,7). So wird die Frage zu einer Frage nach unserem Gottesbild.

Die Antwort der als Richter angerufen Menschen wird nicht abgewartet. Der Weinbergbesitzer selbst beschliesst, was zu tun ist. Er überlässt den Weinberg sich selbst. Die Schutzmassnahmen gegen zerstörerische Kräfte und die Pflege werden eingestellt, die Fördermassnahmen (Regen) entzogen. Auch wenn sich Jes 5,5–6 im Kontrast zu den pflegerischen Tätigkeiten brutal liest, so ist zu beachten, dass der Besitzer den Weinberg nicht weggibt, sondern weiterhin von «meinem Weinberg» redet. Ausserdem wendet er nicht selbst Gewalt an, um den Weinberg zu zerstören. Die Zerstörung wird durch das Vieh und die Dornen geschehen, denen nicht mehr gewehrt wird. Durch das Einreissen der Mauer bekommt der Weinberg seine Freiheit zurück, mit der risikoreichen Möglichkeit, dass er zertrampelt wird. Das ist der Preis der Freiheit.

Der Schluss überträgt das Bild des Weinbergs allegorisch auf Israel und endet mit einer Situationsbeschreibung: Rechtsbruch und das Schreien des Armen und Entrechteten herrschen im Land. Die Hoffnung dagegen wäre Recht und Gerechtigkeit. Es ist keine Verurteilung! Die unbeteiligten Hörerinnen und Hörer des Anfangs sind zu direkt Betroffenen geworden. Es liegt nun in ihrer eigenen Freiheit, die sinnvolle Hoffnung nach Gerechtigkeit umzusetzen. Die Lebensfreude, die im Bild des Weinbergs liegt, lässt sich von aussen nicht erzwingen und von Gott nicht beanspruchen. Sie ist aber im Menschenbild vorgesehen, sonst wären wir nicht Gottes Weinberg mit der Hoffnung auf süsse Trauben.

Mit der Kirche lesen

Die rabbinische Auslegung hat die einzelnen Tätigkeiten des Weinbergbesitzers zur Pflege und zur Freigabe des Weinberges als Allegorie für die Geschichte Israels genommen, vor allem für Wüstenzug, Landnahme und Exil. Diese Allegorie der Geschichte setzt Matthäus mit den Knechten und dem Sohn des Besitzers fort. Der Weinberg als Quelle der Lebensfreude wird zum Bild für das Reich Gottes, der Hoffnung unserer Freiheit.