Wir beraten

Wir, deine Verstecke   

Peter Zürn zur Lesung am 25. Sonntag im Jahreskreis SKZ 37/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 55,6–9
Evangelium: Mt 20,1–16a

Fragen zum Eidgenössischen Dank- Buss- und Bettag: Können wir umkehren von Wegen, die sich als unheilvoll erweisen? Trauen wir uns neue Wege und neue Gedanken zu? Wo und wie begegnen wir Gott dabei? Fragen im Gespräch mit den Lesungstexten.

Mit Israel lesen

Die Übersetzung des ersten Verses des Lesungstextes ist richtungsweisend für die Auslegung. «Suchet den Herrn, solange er sich finden lässt . . .» lautet er in der Einheitsübersetzung. Buber und Rosenzweig dagegen übersetzen: «Suchet Ihn, da er sich finden lässt!». Benennt der erste Vers das Problem von Gottes (zumindest zeitweiliger) Abwesenheit oder ruft er gerade Gottes Anwesenheit ins Bewusstsein? Zum menschlichen Leben gehören beide Erfahrungen. Die hebräische Präposition «be» im Urtext lässt beide Übersetzungen zu. In seiner Grundbedeutung ist «be» eine Ortsangabe: «Sucht Gott in seinem Sich-fi nden-lassen, ruft ihn in seinem Nahesein». Ein räumliches Verständnis hält die Spannung der gegensätzlichen Erfahrungen aus. Es eröffnet zwischen Menschen und Gott einen Raum, in dem Begegnungen geschehen, in dem aber auch die Verborgenheit und Abwesenheit des Anderen erfahren werden kann und ausgehalten werden muss. Das räumliche und spannungsreiche Verständnis kommt unserer Lebenserfahrung vielleicht am nächsten. Das lässt sich durchaus verallgemeinern – mit einer chassidischen Geschichte: «Ein Rabbi sagt zu seinen Schülern: Wisst ihr, das Wort Gottes ist keine Lehre. Wenn wir es lesen oder hören sind wir nicht gescheiter als vorher . . . Nein! Das Wort Gottes ist eher ein Raum. Und wir sind eingeladen, hineinzugehen, zu tasten, wahrzunehmen mit allen Fasern unseres Lebens, was das Wort uns hier und heute sagen will.»1 Das Wort Gottes in diesem Raum konfrontiert uns auch mit Schweigen oder mit Erlebnissen, in denen wir keinen Sinn finden. Das Volk Israel hat immer wieder schreckliche Erfahrungen machen müssen, in denen es sich von Gott im Stich gelassen fühlte. In der Leseordnung der Synagoge wird der Jesaja-Text der Toralesung aus Dtn 31 zugeordnet. Dort spricht Gott: «An jenem Tag wird mein Zorn gegen sie entbrennen. Ich werde sie verlassen und mein Angesicht vor ihnen verbergen» (31,17). Und ein Midrasch lehrt: «Das Gebet wird mit einem Tauchbad verglichen, die Umkehr aber mit dem Meer. Wie das Tauchbad bald off en, bald geschlossen ist, so sind die Tore des Gebetes bisweilen geschlossen, bisweilen geöffnet. Doch das Meer ist für immer geöffnet. So sind auch die Tore der Umkehr für immer geöffnet»2. Der Hinweis auf das Tor der Umkehr, das immer geöffnet ist, führt uns zurück zum Lesungstext. Erwähnt werden muss aber zuvor, dass die Ansicht, die Tore des Gebetes seien zeitweilig geschlossen, innerhalb der rabbinischen Auslegung selbstverständlich nicht ohne Widerspruch blieb. «Rabbi Anan entgegnete: Die Tore des Gebetes sind nicht minder für immer geöffnet, wie es heisst (Dtn 4,7): <. . . wie der Herr, unser Gott, den wir immer anrufen (können)>»3. Die rabbinische Auslegung, die ein Gespräch mit und zwischen Bibeltexten führt, entwickelt keine einheitliche und widerspruchsfreie Lehre, ist aber Orientierungshilfe und Wegweiser auf dem Weg durch den Raum des Wortes Gottes.

Zurück zum Lesungstext. Der zweite Vers (55,7) ruft zur Umkehr auf – ein Tor zu Gott, das niemals verschlossen ist. Die Bibel unterscheidet sich radikal von der antiken Tragödie. Nichts ist unausweichlich. Es gibt kein unabwendbares Verhängnis, nichts im persönlichen Leben und nichts in der Politik, was nicht auch anders sein könnte. Nichts, was nicht anders werden kann. Das ist begründet in der wesentlichen Eigenschaft Gottes, der Barmherzigkeit. Das hebräische Wort für Barmherzigkeit, die in 55,7 angeboten wird, ist verwandt mit dem Wort rechem, Mutterschoss. Ein Neuanfang, eine neue Geburt, ist jederzeit möglich.4 Unser Text spricht wörtlich von der Grosszügigkeit Gottes im Vergeben.

«Das Meer, das immer offen ist», «der Mutterschoss der Barmherzigkeit», «die Grosszügigkeit» – der Bibeltext und die Auslegung finden Bilder aus dem Raum menschlicher Erfahrung, in denen wir dem Geheimnis Gottes näherkommen. Jes 55,8 setzt dann aber auch eine klare Grenze – als Spruch Gottes: «Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege.» Meint der Text eine radikale Andersheit zwischen Gott und den Menschen im Denken und auf den Wegen des Vergebens? Rabbi D. Kimchi hat das so verstanden: «Hat sich jemand gegen seinen Nächsten etwas zuschulden kommen lassen, so rächt sich dieser an ihm und verzeiht ihm nicht. Selbst wo er ihm äusserlich (sichtbar) verzeiht, bewahrt er ihm (das Rachegefühl) im Herzen».5 Wir alle kennen das, es ist nur allzu menschlich. Aber wir kennen auch das Gegenteil als zutiefst menschliche Erfahrung: Menschen verzeihen und vergeben einander. Hier sind Gottes Gedanken und Wege also nicht völlig anders als die der Menschen. Deswegen liegt es näher, Vers 7 in Abgrenzung zu Vers 6 zu verstehen. Die Wege des Ruchlosen und die Pläne des Frevlers sind nicht die Gedanken und Wege Gottes. Wer Unheil plant oder tut, soll umkehren und sich an den ganz anderen Gedanken und Wegen Gottes ausrichten. Gott traut den Menschen die Umkehr zu. Er lädt dazu ein, fordert dazu heraus. Gleichzeitig entlastet er von Überforderung und warnt vor Allmachtsgefühlen. Denn obwohl wir uns an Gottes Wegen und Gedanken ausrichten können, wird es uns doch immer nur fragmentarisch gelingen. Der Abstand und die Unvergleichbarkeit mit Gott bleiben bestehen, betont Jes 55,9. Gott mag es gelingen, Versöhnung und Vergebung auch noch zwischen dem schrecklichsten Gewalttäter und seinen Opfern zu bewirken. Wir Menschen spüren die Sehnsucht danach, auch wenn wir uns nicht vorstellen können, wie es geschehen soll, ohne dass es zu etwas kommt, das die Leiden der Opfer nachträglich noch verhöhnt. Das bleibt ein Geheimnis im Raum des Wortes Gottes. Die Richtung dahin ist uns aber durch Gottes Wege und Gedanken gewiesen.

Mit der Kirche lesen

Das Evangelium, das Gleichnis von den Arbeiterinnen und Arbeitern im Weinberg, kann durchaus als ein Midrasch, eine Auslegung des Verses von der Grosszügigkeit Gottes in Jes 55,7 verstanden werden – genauso wie das Gleichnis vom barmherzigen Vater in Lk 15, wo es noch expliziter um Barmherzigkeit und Vergebung geht. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die den ganzen Tag hart gearbeitet haben – und über sie alle Hörerinnen und Hörer des Gleichnisses – sind aufgerufen, den Wegen und Gedanken des Weinbergbesitzers zu folgen. So kommt das Reich der Himmel, das uns mitunter abgehoben wie ein Luftschloss auf Wolken zu schweben scheint, zur Welt und wird unter uns geboren. So tut sich in der Beziehung zwischen Menschen ein Raum auf, in dem Gott verborgen im Mitmenschen anwesend ist. «Wir, deine Verstecke», hat Kurt Marti das genannt. Ob Gott als anwesend oder abwesend erfahren wird, zeigt sich darin, wie sehr sich Menschen an Gottes Wegen und Gedanken ausrichten.

1 Zitiert nach: www.bibliodramaundseelsorge.ch
2 Zitiert nach: R. Gradwohl: Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Bd. 2. Stuttgart 21995, 247.
3 Ebd.
4 Gott als Geburtshelfer ist Thema der folgenden Verse Jes 55,10–11, vgl. SKZ 176 (2008), Nr. 27–28, 462.
5 Zitiert nach Gradwohl, 253.