Wir beraten

Wenn alles zuviel wird   

Dieter Bauer zur Lesung am 24. Sonntag im Jahreskreis SKZ 36/2008

Alttestamentliche Lesung: Num 21,4–9
Evangelium: Joh 3,13–17

Kennen Sie das auch? Sie durchleben eine schwere Zeit. Immer wieder kommt noch ein neuer Schicksalsschlag hinzu. Und dann kommt der Tag, an dem einfach alles zuviel ist, das Ereignis, das das Fass zum Überlaufen bringt. Sie können nicht mehr. Und was besonders schlimm ist: Sie vermögen jetzt auch das Positive nicht mehr zu sehen, das es bisher ja trotz allem auch gab. Alles ist nur noch negativ.

Mit Israel lesen

So ähnlich stelle ich mir die Situation vor, von der der heutige
Lesungstext spricht. Er handelt von einer kleinen Episode innerhalb der 40-jährigen Wüstenwanderung des Volkes Israel. Meist wird sie abgetan unter dem Thema «Murren in der Wüste»:

Unterwegs aber verlor das Volk den Mut, es lehnte sich gegen Gott und gegen Mose auf und sagte: Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser. Dieser elenden Nahrung sind wir überdrüssig (Num 21,4 f.). Aber das wäre zu einfach. Man muss schon etwas genauer hinschauen, warum es zu diesem Murren kommt. Der Anlass war nämlich: Die Israeliten . . . schlugen die Richtung zum Schilfmeer ein, um Edom zu umgehen (V. 4). Aber was ist daran so schlimm?

Im vorhergehenden Kapitel war erzählt worden, wie die Israeliten es auf ihrem langen Marsch durch die Wüste endlich geschafft hatten, an der Grenze des Gelobten Landes anzukommen. Nur noch das Gebiet Edoms wäre zu durchqueren gewesen. Doch da weigerte sich der König von Edom, sie durchziehen zu lassen. Die Katastrophe war perfekt: Der Traum vom Gelobten Land musste wieder mal vertagt werden, die grossen Wünsche an das Leben zurückgestellt. Sie mussten umkehren und dahin zurück, wo vor vielen Jahren alles so hoffnungsvoll begonnen hatte: zum Schilfmeer!

Dass die Israeliten in dieser Situation das Gefühl bekommen, dass die jahrelangen Mühen und Strapazen umsonst gewesen waren, scheint mir nachvollziehbar zu sein. Jetzt reicht es! Und weil sowieso schon alles zu viel ist, wird das Kind auch gleich mit dem Bade ausgeschüttet: «Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser. Dieser elenden Nahrung sind wir überdrüssig.» Der ganze Glaube an die göttliche Führung, der ihnen bisher geholfen hatte, die Strapazen der Wüste zu bestehen, ist wie weggeblasen. Die Herausführung aus dem «Sklavenhaus Ägypten» (Ex 13,3.14 u. ö.) erscheint sinnlos, ja wird geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Nicht um dem Volk ein Leben in Freiheit zu ermöglichen, soll Gott es herausgeführt haben, sondern um es in den sicheren Tod zu führen.«Es gibt weder Brot noch Wasser», murren sie. Das ist natürlich auch nicht wahr: Kurz vorher erst hatte Mose auf göttliche Anweisung Wasser aus dem Felsen sprudeln lassen (Num 20,7–11). Und Gott selbst hatte sein Volk die ganze Zeit in der Wüste täglich mit Manna versorgt. Aber so ist das eben, wenn einem alles zu viel ist. Nichts scheint mehr etwas wert zu sein, nicht einmal das himmlische Manna: «Dieser elenden Nahrung sind wir überdrüssig.»

Was geschieht nun mit diesen zutiefst unglücklichen Menschen, deren Hoffnungen wieder einmal enttäuscht wurden und die keine Zukunft sehen? Gibt es Trost für sie? Oder gar ein neues Wunder? Nein. Es ist unglaublich: Da schickte JHWH Giftschlangen unter das Volk. Sie bissen die Menschen und viele Israeliten starben (V. 6).

Meist wird diese göttliche Reaktion als Strafe gedeutet. Aber wozu Menschen, die sowieso nicht aus und ein wissen, auch noch bestrafen? Auf eine solche Idee kann niemand kommen, der diesen Gott kennt, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, geführt hat; der dich durch die grosse und Furcht erregende Wüste geführt hat, durch Feuernattern und Skorpione, durch ausgedörrtes Land, wo es kein Wasser gab; der für dich Wasser aus dem Felsen der Steilwand hervorsprudeln liess; der dich in der Wüste mit dem Manna speiste, wie es im Buch Deuteronomium heisst (Dtn 8,14–16). So primitiv denken die biblischen Erzähler nicht. Und dass es so einfach nicht sein kann, darauf müsste schon das mehrdeutige Symbolbild der «Schlange» aufmerksam machen. Im hebräischen Text stehen hier serafim, geflügelte feurige Schlangenwesen (in Dtn 8,15: «Feuernattern»), die sich nach der Vision des Jesajabuches (Jes 6) in der Nähe Gottes aufhalten. So verstanden ginge es also bei der «Schlangenplage» nicht um eine naturhistorische Erscheinung, sondern um eine Transzendenzerfahrung des Volkes Israel. Allerdings ist dies eine Begegnung mit der zerstörerischen Seite Gottes. Doch welchen Sinn sollte dies haben?

Unsere grossen Wünsche an das Leben – und dafür steht biblisch die Sehnsucht nach dem Gelobten Land – verdrängen manchmal das Bewusstsein dafür, dass die Erfüllung unserer kleinen Bedürfnisse keine Selbstverständlichkeit ist. Jeder beispielsweise, der schon einmal plötzlich zu einem Klinikaufenthalt gezwungen wurde, kann die Erfahrung machen, wie sich allein dadurch viel in seinem bisherigen Leben relativiert. Das Gezwungensein auf das zu schauen, was man meist nicht so gerne anschaut, schweres Leid und Sterben, kann das eigene Leben wieder in ein anderes Licht rücken. So ähnlich stelle ich mir hier die «Schocktherapie» Gottes vor: Die Begegnung mit den «Schlangen», mit Bissen, Verletzungen, Krankheit und Sterben, relativierte plötzlich viel von dem, was vorher unerträglich schien. Es gibt eben keinen Rechtsanspruch auf das Gelobte Land, der irgendwie bei Gott einzuklagen wäre. Zum Leben gehören auch die negativen Dinge dazu, nicht weil sie gut wären, aber weil sie u. a. das Positive sehen lehren. Angesichts des Leidens und Sterbens, der wirklichen Verletzungen, finden die Israeliten zu ihrem Gott zurück, rückt ihr Leben wieder in das rechte Licht: Die Leute kamen zu Mose und sagten: Wir haben gesündigt, denn wir haben uns gegen den Herrn und gegen dich aufgelehnt. Bete zum Herrn, dass er uns von den Schlangen befreit (V. 7).

Am liebsten wäre den Israeliten natürlich, wenn all das Negative wunderbar verschwinden würde. Aber das geschieht nicht: Sie werden gezwungen, es genau anzuschauen, wie in einer Therapie: Mose machte also eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Wenn nun jemand von einer Schlange gebissen wurde und zu der Kupferschlange aufblickte, blieb er am Leben (V. 9).

Das, wovor sich das Volk am meisten fürchtet, weil es Schmerzen und Tod bringt, wird sichtbar gemacht und wie ein Feldzeichen aufgerichtet. Diese negativen Seiten des Lebens werden nicht einfach weggenommen, sondern direkt vor Augen gestellt. Dass es kein Leben ohne Leiden und Sterben gibt, ist eine Binsenweisheit und muss doch immer wieder neu gelernt werden. Wegschauen hilft da nicht (lange).

Mit der Kirche lesen

Unser Text aus dem Johannesevangelium, der aus dem Nikodemusgespräch entnommen ist, sieht das genauso: «Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat.» (Joh 3,14 f.) Das «Ecce Homo» des Pilatus, der Hinweis auf den leidenden und sterbenden Menschen(sohn), ist hier bereits vorweggenommen. Christen dürfen da nicht wegschauen, wo Menschen leiden und sterben. Das «wahre Leben» – und das meint «ewiges Leben» im Johannesevangelium – ist nicht ohne Leiden und Sterben zu haben. Das Folterinstrument des Kreuzes ist uns Christen zum Feldzeichen geworden – so skandalös das bis heute ist. Aber: Daran gibt es nun einmal nichts zu beschönigen!