Wir beraten

Der Wächter und die Bewachten   

Winfried Bader zur Lesung am 23. Sonntag im Jahreskreis SKZ 35/2008

Alttestamentliche Lesung: Ez 33,7–9
Evangelium: Mt 18,15–20

«Wächter» hat als Wort keinen guten Ruf. Ein «Nachtwächter» gilt als eine phlegmatische und langsame Person, der «Wächter» im Wohnquartier ist der wenig gemochte, der allen hinterher spioniert. Andrerseits haben heute Wachdienste Konjunktur und keine Veranstaltung läuft ohne Sicherheitswächter ab, die vor unbefugtem Zutritt schützten. Dann gibt es noch die vielen kleinen Wächter für jede Gelegenheit in jeder Maschine, die kleinen elektronischen Sensoren, die für Temperatur, Geschwindigkeit, Luftdruck und viele weitere technische Parameter sensibel sind und Fehlfunktionen und Toleranzüberschreitungen sofort ans Zentralsystem weitermelden, um vor grösseren Schäden zu bewahren. Diese präventiv-defensive Assoziation des Wortes – vielleicht mit dem Wort «Hüter» wiederzugeben – wird positiv gesehen. Dagegen sich als Bewachter zu fühlen oder von einem «Späher» – so die andere Seite dieser Wortbedeutung – auskundschaftet, ist eher negativ.

Mit Israel lesen

Ezechiel wird von Gott als Wächter eingesetzt. Seine Aufgabe wird es sein, «auszuspähen » (hebr. .sph), was Gottes Willen ist, eine Aufgabe, die auch anderen Propheten zugewiesen wird (Jes 21,6–8; 52,8; Jer 6,17; Mi 7,4.7; Hab 2,1). Ezechiel soll das Haus Israel, seine judäischen Landsleute in Babylon, vor Gottes Wort warnen. Gott droht an, dass der Schuldige stirbt (hebr.: mût tamût). Diese fi gura ethymologica ist eine dezente Anspielung auf eine andere Stelle, wo sie ebenfalls – fürs Gegenteil – verwendet wird: «am Leben bleiben». (hebr.: . hayâ yi hyä; Ez 18,9). Es wird so ein Zusammenhang mit dem Abschnitt Ez 18,5–9 hergestellt, in dem Gott in der Sprache der priesterlichen Tora-Belehrung ausführlich beschreibt, was er sich unter einem Gerechten vorstellt. Die Pflicht des Wächters ist damit definiert, die Schuldigen zu einem derart beschriebenen Gerechten zu machen.

Das besondere aber ist, dass sich der Wächter selbst schuldig macht, wenn er die Warnung nicht ausspricht und seiner Verpflichtung nicht nachkommt. Ein Davonlaufen aus dieser Aufgabe wie bei einem Jona wird bestraft.

Hier kommt ein ganz neues Modell von Sünde und Schuldigwerden ans Licht: Ist es klar, dass Sünde immer eine Verfehlung gegenüber der Gemeinschaft ist, ein Stören der Beziehung zu anderen (und auch zu Gott), kurz: Lieblosigkeit, so wird es hier gedreht: Schuldig wird nun auch der, der andere auf ihrem schlechten Weg belässt, schuldig wird, wer nicht versucht, andere vom Guten zu überzeugen. Diese Aufgabe ist natürlich sehr sensibel. Gefragt ist dabei die Rolle eines nützlichen Sensors, und nicht der unwillkommene Ausspäher.

Ein Problem des Textes haben wir bisher übergangen. Was ist das für ein Gott? Einerseits spricht dieser Gott die Strafe gegenüber dem Schuldigen aus, andrerseits möchte er aber doch, dass er gewarnt wird, nochmals eine Chance bekommt. Das ist doch ein Widerspruch! Es ist aber das biblische Gottesbild, das uns schon Hosea in seiner ganzen Zerrissenheit als spezifisch göttlich darstellt («Denn Gott bin ich und nicht ein Mann» Hos 11,9). Dieser Gott, der Herzensregungen zeigt (Hos 11,8), ist ganz anders als ein philosophischer Gott, der den theoretischen Kriterien von Allmacht und Unveränderlichkeit entspricht. Im Ezechielbuch hat dieser Widerspruch in Gott seinen besonderen Platz an der Nahtstelle der beiden Phasen der Verkündigung Ezechiels: Die Strafe gegen das ganze Volk, den Untergang Jerusalems und die Deportation wurden als Gericht verkündet, aus dem es kein Entrinnen gibt. Nun da die Katastrophe eingetreten ist, wendet sich Ezechiel an einzelne Menschen. Für den Einzelnen gibt es nun die Chance zur Umkehr, die Ansage des Unheils ist bedingt. Werden die Bedingungen erfüllt, dann kann man dem Unheil entgehen. So kann dann Ezechiel Schritt für Schritt auch zu einer Heilsprophetie für das ganze Volk kommen.

Mit der Kirche lesen
Das Matthäus-Evangelium geht von der anderen Seite aus. Jesus hatte das Reich der Himmel verkündet, das unbedingte und gnadenhafte Heil für alle, die sich zu ihm bekennen. Die Realität der matthäischen Gemeinde zeigt aber, dass es auch hier wie bei allen Menschen Sünde und Fehlverhalten gibt. Die Paranäse des heutigen Evangeliums versucht einen praktikablen Weg zu finden; es gibt die Möglichkeit zur Umkehr. Die angedrohte Strafe wenn die Umkehr nicht stattfindet, «er sei dann wie ein Heide» (Mt 18,17), zeigt das Bestreben, die Gemeinde der Christen «heilig» zu halten. Aber wie im Lesungstext ist es die Forderung an die anderen, aufmerksam zu sein und sich um Sündige zu bemühen. Auch wenn wir nicht gerne «Bewachte» sind, so ist es lohnend, in einer Gemeinschaft füreinander sensibel zu sein, wie es Sensoren sind.

Ezechiel und seine Zeit

Der zunächst als ägyptischer Vasall in Jerusalem inthronisierte Jojakim (608–598 v. Chr.) erkannte nach der Schlacht von Karkemisch (605 v. Chr.; Jer 46,2) die Oberherrschaft Babylons über Juda an (2 Kön 24,1), stellte aber nach 3 Jahren die Tributzahlungen ein. Die erhoff te ägyptische Hilfe blieb aber aus und Nebukadnezzar II. zog gegen Juda. Jojakim verstarb während der Belagerung Jerusalems (598 v. Chr.). Nachfolger war sein Sohn Jojachin, der nach 3 Monaten am 16. März sich dem babylonischen Herr ergab (2 Kön 24,8–12). Die Stadt wurde nicht zerstört, aber Tempel und Palast geplündert (2 Kön 24,14). Der König, die Beamten und grosse Teile der Handwerker (2 Kön 24,14–16; Jer 29,1–2) mussten ins Exil. Ezechiel, der aus einer priesterlichen Familie stammte (Ez 1,3), war bei den Deportierten. Der König von Babel machte Mattanja, den Onkel Jojachins, zum König, nannte ihn Zidkija (2 Kön 24,17) und verlangte einen Treueschwur. Zidkija, der letzte Davidskönig in Juda, schwankte in seiner Politik zwischen der Einstellung des Propheten Jeremias, der eine weitere Unterwerfung unter den Babyloniern befürwortete, und der von jüdischen Patrioten, die den Aufstand predigten. Als Zidkija eine antibabylonische Koalition versuchte, bestrafte Nebukadnezzar diesen Treuebruch. 2,5 Jahre belagerte er Jerusalem, bis es am 17. August 586 fi el, geplündert und verbrannt wurde. Ezechiel verfolgte diese Ereignisse aus dem Exil, in Tel-Abib an einem Eufrat-Kanal. Dort durften die exilierten Judäer in Gemeinschaft zusammen wohnen, hatten aber nicht mehr den sozialen Status und Luxus wie vormals in Jerusalem. In der ersten Phase seiner Verkündigung warnte Ezechiel vor der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr und sprach sich gegen die antibabylonische Haltung aus. Seine Drohbotschaft gipfelt in der Ankündigung des Untergangs Jerusalems (Ez 24,21). In der zweiten Phase, nach dem Eintreff en der Botschaft von der Zerstörung Jerusalems (Ez 33,12), ändert sich Ezechiels Verkündigung: Er predigt Gottes rettendes Eingreifen, verspricht den wahren Hirten und das Ausgiessen von Gottes Geist und stellt die Wiederherstellung des Volkes um den neu erbauten Tempel in Aussicht.