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Allmächtig oder hilfsbedürftig?   

Peter Zürn zur Lesung am 16. Sonntag im Jahreskreis SKZ 27-28/2008

Alttestamentliche Lesung: Weish 12,13–16–19
Evangelium: Mt 13,24–43
Neutestamentliche Lesung: Röm 8,26–27

«Was kann Gott damit beabsichtigen, dass er dieses schreckliche Elend nicht verhindert? … Was für ein Ziel kann Gott mit all dem, was uns in dieser furchtbaren Zeit widerfährt, verfolgen?» Das sind Fragen gläubig leidender Menschen aller Zeiten. Auch heute. Auf Schärfste zugespitzt sind es die Fragen jüdischer Menschen während der Schoah.1

Mit Israel lesen

Dieser Abschnitt müsste eigentlich leer bleiben, habe ich schon einmal (SKZ 175 [2007], Nr. 35, 571) mit Blick auf das Buch der Weisheit geschrieben. Das jüdische Buch ist nur im christlichen Alten Testament überliefert worden. Es gehört nicht zu den Lesungstexten in der Synagoge, die rabbinische Tradition beschäftigt sich nicht damit. Es entstand wohl in der 1. Hälfte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts in Alexandria. Die Metropole Ägyptens war geprägt von Multikulturalität und extremen sozialen Gegensätzen. Die jüdische Gemeinde bildete mit ca. 20% der Bevölkerung die grösste jüdische Gemeinschaft ausserhalb Israels und litt unter Diskriminierungen und Verfolgungen. Der dritte Teil des Buches (Kap. 10–19) erinnert an die Anfangsgeschichte Israels, den Auszug aus Ägypten und die Wüstenwanderung. Ziel der Erinnerung ist Vergegenwärtigung. Die Geschichte der Ahninnen und Ahnen wird zur Geschichte der gegenwärtigen Generation. Gottes damals erfahrenes Handeln begründet Hoffnung für heute und morgen. Die Darstellung folgt einer Struktur und stellt den Strafen für die Gottlosen die entsprechenden Wohltaten an den Gerechten gegenüber (vgl. Jes 65,9–15). Die Strafen stehen im Verhältnis zu den begangenen Sünden (11,16). Ganz überzeugend scheint das aber nicht gewesen zu sein. Darum reagieren Exkurse auf Anfragen der Leserinnen und Leser: Warum muss das Volk Gottes – warum müssen wir heute – trotzdem leiden? Warum ist Gott so langmütig gegenüber seinen Feinden? Warum kommt er nicht schneller zu Hilfe? Der Lesungstext gehört zum zweiten Exkurs (11,17–12.22) und reagiert zusätzlich auf folgende Anfragen: Ist Gott wirklich gerecht? Ist es erlaubt, Gott zur Rede zu stellen, gar gegen ihn zu rechten? Das Buch der Weisheit antwortet mit dem Bild des allmächtigen Gottes, der nicht aus Schwäche, sondern aus Liebe zu seinen Geschöpfen seine Macht zurückhält. Die Zurückhaltung ist pädagogisch begründet. Sie gibt den Ungerechten Gelegenheit zur Umkehr und ist den Gerechten Vorbild für Menschenfreundlichkeit und Feindesliebe (12,19–22). So lautet denn auch das Leitwort des etwas willkürlich zusammengestellten Lesungstextes «Stärke». In den ungerechten Verhältnissen zeigt sich gerade nicht die Schwäche Gottes. Seine Milde und Nachsicht sind Ausdruck von Stärke und Gerechtigkeit. Gottes Handeln soll das Volk lehren, ebenso zu handeln, also menschenfreundlich zu sein – auch den Feinden gegenüber. Darin erweist sich die Gerechtigkeit der Gerechten und ihre Stärke. Hier wird nicht nahegelegt, Ungerechtigkeit passiv und schweigend zu erdulden. Es geht um aktives Handeln – 12,22 weist dem Volk die Rolle des Richters zu – ein Handeln, das Unrecht beim Namen nennt und Menschen für ihre Taten verantwortlich macht. Dies allerdings im Bewusstsein, selbst einmal vor (Gottes) Gericht zu stehen und auf Erbarmen angewiesen zu sein. Dahinter steht die Weisung der Tora aus Lev 19,18, die wörtlich heisst: «Liebe deinen Nächsten – er ist wie du.» Das menschenfreundliche Verhalten dem Nächsten – auch dem Feind – gegenüber, gründet im Bewusstsein der Gemeinsamkeit: Alle Menschen sind lebensnotwendig auf Menschenfreundlichkeit angewiesen.

Das Buch der Weisheit hat keine Resonanz in der jüdischen Tradition gefunden, wohl aber die dahinterstehenden Anfragen. Das Buch Ijob ist ein grosses Streitgespräch darüber. «Kein König und kein Herrscher kann dich zur Rede stellen», formuliert Weish 12,14. Trotzdem haben sich «gewöhnliche» gläubige Menschen dieses Recht nicht nehmen lassen. Jüdisches Klagen vor Gott, Ringen mit Gott, Beziehung mit Gott gerade im Streit und der radikalen Anfrage kann uns Vorbild sein. Die holländische Jüdin Etty Hillesum, die im Gefangenenlager Westerbork ein Tagebuch und darin ein intensives Gespräch mit Gott führt, ist mit dem Buch der Weisheit einig, von Gott keine Rechenschaft zu fordern. Sie entwirft aber ein offenbar ganz anderes Gottesbild. Am 12. Juni 1942 notiert sie: «Dies eine wird mir immer deutlicher: dass du [Gott] uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns zu retten. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Innern bis zum Letzten verteidigen müssen.»2

Aus dem allmächtigen Gott im Buch der Weisheit ist bei Hillesum der hilfsbedürftige Gott geworden, der an den Umständen nichts ändern kann. Als Hilfsbedürftiger wirkt er auf die Menschen: Er braucht unsere Hilfe. Indem wir Gott helfen, helfen wir uns selbst. Indem wir Gott retten, retten wir uns selbst. Indem wir Gott Wohnsitz in uns geben, d. h. die grund legende Hilfsbedürftigkeit in uns anerkennen, verteidigen wir Gott und Menschen gegen die drohende Vernichtung. Etty Hillesum denkt Lev 19,18 theologisch radikal weiter: Liebe Gott als deinen Nächsten – er ist wie du, der Liebe und der Hilfe bedürftig. Darin liegt unsere Stärke und darin gründet letztlich Gerechtigkeit.

Mit der Kirche lesen

Das Matthäusevangelium knüpft im Gleichnis vom Unkraut und seiner Deutung an die Frage nach der Langmut Gottes an. Die Frohbotschaft von bleibender Umkehrmöglichkeit und Feindesliebe tritt aber hinter die Drohbotschaft vom Endgericht zurück. Die Gleichnisse von Samenkorn und Sauerteig sprechen von der besonderen Stärke des göttlichen und des menschlichen Handelns in seiner Wirkung auf andere. Die Frau, die Sauerteig unter das Mehl mischt, verkörpert Frau Weisheit, die Lern- und Veränderungsprozesse anstösst und darum weiss, dass sie sowohl tatkräftiges Wirken als auch Zeit zum Gehenlassen brauchen. Backende und aussäende Menschen wirken mit am Entstehen von Lebensmitteln, derer wir alle bedürfen. Sie sind Bilder dafür, wie wir Gott und dadurch uns selbst helfen.

Der Lesungstext aus dem Brief an die Gemeinde in Rom schliesslich nimmt die Anfragen derer ernst, die in Not sind, sich nicht vorschnell vertrösten lassen, aber die Beziehung zu Gott und der göttlichen Weisheit auch nicht einfach aufgeben wollen. «In unserer Ohnmacht steht uns die Geistkraft bei, wenn wir keine Kraft mehr haben, so zu beten, wie es nötig wäre. Die Geistkraft selbst tritt für uns ein mit wortlosem Stöhnen. Gott kennt unsere Herzensanliegen und versteht, wofür die Geistkraft sich einsetzt, weil sie im Sinne Gottes für die heiligen Geschwister eintritt.»3

1 Diese Fragen stellt der 16-jährige Mosche Flinker in seinem Tagebuch: Auch wenn ich hoffe. Berlin 2008, 18 f. unter dem Datum vom 26. 11. 1942.
2 Zitiert nach Christoph Gellner / Georg Langenhorst (Hrsg.): Herzstücke. Texte, die das Leben ändern. Ein Lesebuch zu Ehren von Karl-Josef Kuschel. Düsseldorf 2008, 166 f.
3 Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache.