Wir beraten

Was will Gott? Wachsende Komplexität.   

Peter Zürn zur Lesung am 15. Sonntag im Jahreskreis SKZ 27-28/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 55,10–11
Evangelium: Mt 13,1–23

«Gott will es!» Der Grundsatz des religiösen Fundamentalismus und die Zauberformel um Verantwortung abzugeben. Vermutlich wäre es sinnvoll und theologisch, die Antwort auf die Frage, was Gott will, konsequent zu verweigern. Für einmal sei es hier trotzdem gewagt, mit wachsender Komplexität.

Mit Israel lesen

Der kurze Lesungstext provoziert die Frage: Was will Gott? Wozu sendet er sein Wort aus? Die Antwort darauf gibt ein Gleichnis: Es erzählt davon, was Regen und Schnee bewirken. Wo die Einheitsübersetzung als erste Wirkung vom Tränken der Erde spricht, steht im Hebräischen eine Form des Verbes jalad, gebären (lassen). Das Wort weckt Bilder von Zeugung und Geburt, von Geburtshilfe und Hebammendiensten. Regen und Schnee sind geburtsauslösende Mittel. Sie lassen Neugeborenes wachsen und in die Höhe spriessen. Dabei lassen Regen und Schnee ganz Unterschiedliches wachsen, junges Grün, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, alle Arten von Bäumen, die Früchte bringen mit ihrem Samen darin (Gen 1,12). Wer in den letzten verregneten Wochen einen Blick für Gärten, Wiesen und Wälder hatte, konnte das sehen. Der Bezug zu Gen 1 an dieser Stelle ist bewusst: Das Wort-Gottes-Gleichnis in Jes 55 ist Schöpfungstheologie.

Regen und Schnee sind es nach Jes 55 auch, die Saatgut und Brot geben. Der Text unterschlägt den Anteil menschlicher Arbeit und Kulturtechnik, die nötig sind, um aus dem Gewachsenen Saatgut und Brot zu machen. Er spricht damit deutlich aus, wie abhängig sich die Menschen im vorderen Orient – trotz aller ausgereifter agrarischer Fähigkeiten – vom Regen, der vom Himmel fällt, gefühlt haben. Trotzdem klingt natürlich an, dass Menschen wesentlich daran mitwirken, dass Saatgut und Brot, also Mittel zum menschlichen Leben, entstehen. Warum wird das Saatgut vor dem Brot genannt? So wird betont, dass die Wirkung des himmlischen Überflusses auf Zukunft ausgerichtet ist. Nicht nur das heutige, sondern das tägliche Brot soll vorhanden sein, auch morgen wieder, nach der nächsten Aussaat, für kommende Generationen. Die Verantwortung dafür muss denen, die heute Brot essen, vor Augen stehen. Ein Midrasch, eine erzählende Auslegung dieser theologischen Überzeugung, ist Gen 25, die Geschichte von Jakob und Esau, dem Linsengericht und dem Erstgeburtsrecht. Esau ist nur am sofortigen Essen interessiert. Jakob übernimmt mit dem Erstgeburtsrecht eine besondere Verantwortung für die Zukunft.

Die Wirkung des Regens und des Schnees ist Gleichnis für das Wort Gottes. Also ist auch das Wort Gottes Geburtshilfe für vielfältiges Leben. Eine Bibelarbeit mit dem Schöpfungsbericht von Gen 1 zeigt das. Zunächst ist ein rundes schwarzes Tuch in der Raummitte sichtbar. Der Text wird vorgelesen. Nach den Worten «Und es wurde Licht» (1,3) wird die Hälfte des Tuches umgedreht und ein gelbes Tuch kommt zum Vorschein. Nach den Worten «und so geschah es» (1,7) werden das schwarze und das gelbe Tuch von der Mitte nach aussen gerollt, so dass «Finsternis» und «Licht» die Mitte umschliessen. Dazwischen werden blaue Tücher sichtbar, die horizontal geteilt sind. Nach 1,9 wird die untere blaue Hälfte zur Seite geschoben, so dass ein braunes Tuch, das «Land» zum Vorschein kommt, das «Meer» aber noch da ist. Nach 1,11 wird ein grünes Tuch auf das braune Land gelegt. Nach 1,15 werden eine grosse Kerze auf die Lichtseite und eine kleine Kerze auf die Finsternisseite gestellt. Glaslinsen werden als Sterne über den Nachthimmel gestreut. Nach 1,21 und 1,24 werden ausgeschnittene Papiervögel und Fische bzw. Landtiere an ihren Ort gelegt. Nach 1,28 werden zwei Menschenfiguren ins Bild gestellt. Die Schöpfung wird sichtbar als eine Entfaltung von Unterschieden, als wachsende Komplexität, als ein Raum, in dem Vielfalt – Gegensätze und Widersprüche inklusive – neben- und miteinander existieren.

Nach jüdischem Verständnis stehen Schöpfung und Tora in enger Beziehung: Gott hat die Welt durch die Tora geschaffen; die Tora ist der Bauplan der Welt; die Tora ist ihre innere Seele … Die Tora gleicht darum der Schöpfung in ihrer Vielfältigkeit. Sie ist für das Volk Israel ein Lebensmittel, Weisung zum Leben. Sie kommt von Gott und ist dem Menschen gegeben, damit er sie bebaue und hüte. Die Auseinandersetzung mit der Tora gleicht der Arbeit in und mit der Natur. Die Bewahrung und Auslegung der Tora macht aus ihr das Mittel, das Menschen zum Leben brauchen, heute und morgen. Die Tora ist Wort Gottes – in dem dynamischen Wortsinn des Hebräischen: In ihr wirkt Gott. Sie ist Geschenk Gottes, aber sie ist «nicht im Himmel» (Dtn 30,12). Eine berühmte Geschichte erzählt vom Streit zwischen Rabbinern. Rabbi Eliezer wird dabei von Wundern unterstützt: Ein Baum bewegt sich, ein Fluss fliesst rückwärts, die Wände des Lehrhauses neigen sich. Sogar eine Himmelsstimme tritt für ihn ein. Die Mehrheit der Rabbinen bleibt aber bei ihrer Auslegung und begründet ihre Eigenständigkeit selbst Gott gegenüber mit der Tora: «Die Tora ist bereits vom Berg Sinai her verliehen worden. Wir achten nicht auf die Himmelstimme, denn bereits hast du am Berg Sinai in die Tora geschrieben: ‹nach der Mehrheit zu entscheiden› (Ex 23,2).»1 Die Mehrheit entscheidet – in der Regel nach komplexen Diskussionen. Die jüdische Tradition überliefert auch die unterlegene Meinung der Minderheit. Unter veränderten Bedingungen kann sie lebenswichtig sein. Wichtiger als die endgültige Entscheidung ist der dynamische und komplexe Prozess der Auseinandersetzung. Für diesen Prozess wachsender Komplexität will Gottes Wort Geburtshilfe sein. Wir sind herausgefordert und ermächtigt, die Welt so zu mitzugestalten, dass sie Lebensraum für vielfältige Lebensformen und Lebensweisen ist – in dieser und der nächsten Generation.

Mit der Kirche lesen

Im Matthäusevangelium klinkt sich Jesus in die jahrhundertealte Debatte um die wachsende Komplexität ein – mit einem Gleichnis. Er ergänzt die Wort-Gottes- und Schöpfungstheologie um drei Aspekte:

1. In Ergänzung zu Jesaja lenkt er den Blick vom Himmel, aus dem der Regen fällt, auf den Boden, auf den das Saatgut des Sämanns trifft. Beides gehört eng zusammen. Jesus und Jesaja widersprechen sich nicht, sondern sprechen miteinander und setzen je unterschiedliche Akzente – je nachdem in welche Situation hinein sie sprechen.

2. In Ergänzung zur rabbinischen Auseinandersetzung um die Toraauslegung weitet er den Blick auf die Wirkung des Wortes im Herzen jedes Menschen. Die Tora ist nicht nur den Schriftgelehrten gegeben, sondern dem ganzen Volk. Kein Rabbiner würde hier dem Rabbi Jesus widersprechen, viele würden aber vermutlich das Gespräch um weitere wesentliche Gesichtspunkte ergänzen.

3. In guter biblischer Tradition ergänzt Jesus die Schöpfungstheologie um die Rede vom Gericht. Die Schöpfung bietet Raum für Vielfalt. Alles ist möglich. Aber es ist für uns Menschen nicht alles gleich gültig. Wir kommen nicht darum herum, uns mit den Folgen unseres Tuns auseinanderzusetzen.

1 Zitiert nach Alexander Deeg: Predigt und Derascha. Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum. Göttingen 2006, 82. Diese Auslegung von Ex 23,2 ist selbst wieder eigenwillig, allerdings wird erzählt, dass Gott selbst nach diesen Ereignissen lacht und sagt: «Meine Kinder haben mich besiegt» (ebd.).