Wir beraten

Der Geier als Gnadensymbol   

Ursula Rapp zur Lesung am 11. Sonntag im Jahreskreis SKZ 23/2008

Alttestamentliche Lesung: Ex 19,2–6a
Evangelium: Mt 9,36–10,8

Es gibt Zeiten, da jagt ein Problem das nächste. Es gibt kaum eine grössere Herausforderung, als genau in solch einer Zeit zuversichtlich darauf zu vertrauen, dass es eine göttliche Macht gibt, die in all dem Schwierigen trotzdem oder gerade deswegen schützend und bergend eingreift. Es gibt kaum etwas Schwierigeres, als genau dann zu sagen: Es ist meine Entscheidung, diesen Schutz anzunehmen. Und doch wird das erzählt und zwar nicht für einzelne, sondern das ganze Volk Israel.

Mit Israel lesen

Das 19. Kapitel des Exodusbuches erzählt von einer Ankunft. Nach der gelungenen Flucht aus Ägypten zog das Volk Israel vom Schilfmeer weiter nach Mara in der Wüste Schur, wo das Wasser bitter war (Ex 15,22–27). Von dort führte der Weg nach Elim in der Wüste Sin, wo es zunächst kein Fleisch, dann aber dafür Wachteln und Manna gab (Ex 16). Danach gelangte Israel nach Refidim, wo wieder Wassermangel, aber auch der berüchtigte Kampf gegen das amalekitische Volk durchzustehen waren (Ex 17). In Ex 18 lernt Mose von seinem midianitischen Schwiegervater, wie so ein Volk rechtlich überhaupt zu verwalten ist, wie man also mit Konflikten umgehen kann. Zwar hat Gott das Volk Israel aus dem Sklavenhaus befreit, aber wahrlich nicht aus Schwierigkeiten. Jedes Kapitel erzählt von neuen Problemen. Und jetzt sollen sie angekommen sein, bei Gott, an dem Berg Sinai. Auch dort ist Wüste. Wo ist man da angekommen? Was kann sich Israel erwarten? Welche Schwierigkeiten lauern hier? Zumindest beginnt das Kapitel nicht, wie die Episoden in Ex 15–17 mit dem Murren der Menschen, sondern mit den einladenden Worten Gottes in V4: «Ihr habt miterlebt, wie ich Ägypten behandelt habe. Euch aber habe ich wie auf Geierflügeln hierher gebracht.» Wer das Exodusbuch kontinuierlich liest, weiss, was gemeint ist: Nicht nur hat Gott schrecklich an Ägypten gewütet, Gott hat das Volk Israel buchstäblich auf wunderbare Weise durch mehrere Wüsten «getragen» und versorgt. Die heute oftmals etwas fremd anmutenden Geierflügel waren dem altorientalischen Ohr durchaus vertraut. Denn der Geier war ein Symboltier der kanaanäischen Göttin. Der Geier stand nicht nur als König der Lüfte für Macht, wie sie der Adler in Europa als Wappentier auf zahlreichen Fahnen repräsentiert. Geier drückten vielmehr Schutz und Geborgenheit aus. In verschiedenen Religionen, wie z. B. der hethitischen, ist die Vorstellung, dass Geier die Toten verschlingen, tröstlich, denn so holt die Göttin die Menschen zu sich und damit in ihren Schutz zurück. Auch in Ägypten galt der Geier als ein Tier von Schutzgottheiten. So finden wir Geier auf Sarkophagen, Tempelwänden und sogar auf alltäglichen Amuletten, die vor allem Kleinkinder und Schwangere schützen sollten. Solche Amulette wurden auch in Palästina gefunden. Silvia Schroer sieht im Geier die mütterlich-regenerierenden Kräfte der Gottheit symbolisiert.1

Gott empfängt somit Israel am Gottesberg mit Worten des Trostes, indem er auf die bereits überstandenen Schwierigkeiten in der Geiergeborgenheit hinweist.

Zu diesen Worten der Zuversicht gehört aber doch auch der Ort: Es fällt auf, dass das Volk gerade mal ankommt und Mose sofort auf «den Berg» hinaufsteigt. Mose selbst ist das Ziel ganz klar. Denn als er Gott das erste Mal begegnet ist, kündigt Gott am Anfang des Gesprächs der beiden an, dass Israel diese Gottheit «auf diesem Berg hier» verehren wird (Ex 3,12). Die Verehrung und die Offenbarung an das Volk, findet dann in Ex 19,16–25 statt. Dieser Berg als Ort Gottes ist das angestrebte erste Ziel der Wanderung. Hier soll die Gottheit verehrt und hier soll gefeiert werden. So klar das Ziel definiert ist, so unklar ist, wo es liegt: Der Berg heisst in Ex 3 Horeb und in Ex 19 Sinai. Das deutet auf verschiedene Berge hin und hat zu den unterschiedlichsten Spekulationen über ihre Lokalisierung geführt. Aber auf dem Horeb, als Gott sich Mose erstmals vorstellte, brannte bekanntlich der Dornbusch, hebräisch saneh. Im Hebräischen haben «Sinai» und «saneh» dieselben Buchstaben. Der Berg Sinai ist der «Dornbuschberg». Mehr wissen wir nicht. Der Berg ist heute längst nicht mehr identifizierbar, und war es scheinbar auch schon in biblischer Zeit nicht, weil er ja schon damals zwei Namen hatte. Vielleicht ist es auch egal welcher Berg es ist, wichtig ist, dass es der Berg der Gegenwart und Offenbarung Gottes ist, eben der «Dornbuschberg».

Gott hat sein Versprechen eingelöst und hat dieses Volk unter dem Schutz der göttlichen Geierflügel an den Ort seiner Gegenwart gebracht. Vielleicht ist dieser Ort ein Schutzort, jedenfalls ein heiliger Ort. Mose darf ihn nicht mit Schuhen betreten (Ex 3,5) und das Volk darf auch nicht auf den Berg steigen (19,12). Es geht hier um die Trennung zwischen heiligen Orten und profanen Orten und zwischen heiligen und profanen Begegnungen: die Menschen sollen sich auf die Begegnung mit Gott vorbereiten, sich reinigen, keinen Geschlechtsverkehr haben, sorgsam mit ihren Beziehungen umgehen und achten, wo sie sich aufhalten.

Die Trennung zwischen heilig und profan liegt auch der Beziehung zwischen Gott und Volk zugrunde, die Gott Mose gegenüber ankündigt: «Wenn ihr jetzt fest auf meine Stimme hört und meinen Bund bewahrt, dann werdet ihr ein (segula) sein für mich unter allen Völkern.» Und noch mehr: «Ihr werdet mir ein priesterliches Königreich, ein heiliges Volk sein.»2

Diese Rede Gottes ist einer der Erwählungstexte Israels und damit kein unproblematischer, weil darin immer die Bevorzugung eines Teils der Menschheit vor anderen steckt. Es geht dabei um die Frage, warum ein Volk anders ist als ein anderes. Bis in die Gegenwart kämpfen wir mit dem Umgang religiöser, politischer und kultureller Differenzen und damit, diese nicht zu bewerten, auch wenn sie im Zusammenleben Herausforderungen darstellen. Ex 19 ist bereits eine frühe Form eines notwendigen «Diversity-Managements». Denn von «Erwählung» zu sprechen bedeutet zu reflektieren, warum man die eigene Kultur und Religion lebt. Es ist eine Frage der eigenen Identität, diese anderen gegenüber abzugrenzen und zu legitimieren. Ex 19 reflektiert die Frage einer nach dem Exil als Minderheit lebenden Gruppe: Was unterscheidet uns von den Völkern um uns? Die Antwort wird in zwei Richtungen angedeutet: Einerseits erinnert der Text an die Befreiung aus der Unterdrückung: es gibt eine gemeinsame Erfahrung dieser Gruppe von Gott als mächtigem Schutz. Andererseits gibt es eine gemeinsame Entscheidung: Gott bietet Israel den Bund an und stellt das Volk vor die Wahl, ihn anzunehmen oder nicht (V3–8). Die Rabbinen waren sich der Problematik der Erwählung seit je her bewusst und haben der Exodusstelle deshalb eine Geschichte vorangestellt. Sie erzählen, dass Gott noch bevor er sich an Israel wandte, alle Völker gefragt habe, ob sie die Gebote annehmen wollten. Alle aber haben abgelehnt und das mit ihrer Identität begründet: Die Gebote Gottes würden den Traditionen und Vorschriften ihrer Vorfahren widersprechen. Nur Israel nahm dann die Gebote an, denn es stellte fest, dass bereits Abraham, Jakob, Josef sie beachteten – ohne sie gekannt zu haben.3 Somit wird die Entscheidung Israels zur eigenen Identität schlicht und einfach mit «Tradition» begründet. Die Rabbinen diskutieren diese Argumente nicht. Es geht ihnen nicht darum, Traditionen zu vergleichen und die eine oder andere als besser herauszustreichen. Aber eines wird doch ganz deutlich: Mit diesem Argument allein gibt es kein Miteinander. Es hat keine gemeinsame Gegenwart oder Zukunft im Blick, sondern nur die Fortsetzung der eigenen Vergangenheit. So gilt das Angebot im Bund mit der befreienden Schutzgottheit Israels in Freiheit zu leben nur Israel.

Ex 19,3 macht diese Exklusivität Israels denn auch noch deutlicher: Wenn Israel sich für Gottes Gebote entscheidet, dann würde es Gottes besonderes Eigentum sein und ein «Königreich der Priesterschaft, ein heiliges Volk». Daran anschliessend betont die jüdische Tradition, dass das ganze Volk ein Volk priesterlicher, weil heiliger Menschen war und dass erst mit dem Kult am Goldenen Kalb eine Trennung in priesterliche und nichtpriesterliche Familien erfolgte. Erst also, wenn der Kult, das Feiern, nicht mehr Gott gilt, sondern einer anderen Gottheit, ist das Volk nicht mehr als Ganzes priesterlich und heilig. Dann erst werden die levitischen Familien als priesterliche ausgesondert.

Das Verhältnis zwischen Gott und Volk wird hier sehr innig beschrieben, wenn auch die Wortwahl dieser Innigkeit für uns fremd klingen mag: Gottes Handeln im Bild des Geiers drückt die Geborgenheit bei Gott in den Kämpfen um politische Freiheit aus. Gottes Entscheidung und Einsatz für dieses Volk und die Befreiung sind eine Art «Liebesbeweis» dafür. Aber diese Vorgabe Gottes ermöglicht denn auch die Entscheidung Israels für diese Beziehung in all ihrer Verbindlichkeit und Innigkeit.

Mit der Kirche lesen

Diesem Text der Innigkeit zwischen Israel und seiner Gottheit schliesst sich im Evangelium, Mt 9,36–10,8 Jesu Mitgefühl für das Leiden Israels an. Jesus leidet an der Ausweglosigkeit des Volkes, so wie Gott leidet an der Unterdrückung Israels. Jesus beruft zwölf Männer, damit sie zu den Israelitinnen und Israeliten gehen und ihnen Leben und Hoffnung bringen und somit erinnern an die Gottheit Israels, die wie ein Geier Geborgenheit und Schutz gibt: Sie sollen Kranke heilen, Tote auferwecken, Dämonen vertreiben. Sie sind 12, wie die Stämme Israels, und sie sollen den Menschen Israels zeigen, dass Gottes Versprechen aufrecht ist, dass die gemeinsame Erinnerung an die Befreiung und die Geborgenheit Gottes noch gilt. Da die positiven Eigenschaften des Geiers im abendländischen Raum nie wirklich einsichtig waren, hat die christliche Tradition aus dem Geier den Adler gemacht und noch heute singen viele Christinnen und Christen im wohl ganzen deutschen Sprachraum bekannten Lied «Lobet den Herren»: «... der dich auf Adelers Fittichen selig geführet...».

1 Zum Geier vgl. Silvia Schroer: «Im Schatten deiner Flügel». Religionsgeschichtliche und feministische Blicke auf die Metaphorik der Flügel Gottes in den Psalmen, in Ex 19,4; Dtn 32,11 und in Mal 3,20, in: Kessler, Rainer / Ulrich, Kerstin / Schwantes, Milton / Stansell, Gary (Hrsg.): «Ihr Völker alle, klatscht in die Hände!» FS für Erhard Gerstenberger. Münster 1997, 296–316.
2 NB: Wie es oft geschieht beim Übermitteln der Worte Gottes, übersetzt Mose Gottes Auftrag in mindestens zweierlei Hinsicht falsch: 1. verbietet er den Menschen, Geschlechtsverkehr zu haben (V15), was nach Gottes Worten (V10–13) dem Heiligen der Menschen nicht entgegen steht, und 2. drückt er das Sexualitätsverbot so aus, dass deutlich wird, dass er nur zu den Männern spricht, obwohl Gott ausdrücklich und mehrmals vom ganzen Volk (V3–6.10 und explizit in V12) redet. Eine ähnliche Missinterpretation passiert Mose in V7. Denn in V3 erhält er den Auftrag zum ganzen Volk zu sprechen, in V7 geht er verwunderlicherweise nur zu den Ältesten des Volkes als dessen RepräsentantInnen.
3 Vgl. Ginzberg, Louis: The Legends of the Jews, Vol. III. Philadelphia 1968, 180–182