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Segen oder Fluch?   

André Flury-Schölch zur Lesung am 9. Sonntag im Jahreskreis SKZ 21/2008

Alttestamentliche Lesung: Dtn 11,28.26–32
Evangelium: Mt 7,21–27

«Segen» und «Fluch» haben in der Bibel verschiedenste Bedeutungen und Nuancen. Vereinfacht und verallgemeinernd gesagt meint Segen eine von Gott durchwirkte Heilssphäre in dieser Welt, die gelingendes Leben und Zusammenleben ermöglicht. Fluch bedeutet dem gegenüber alles, was Leben und Zusammenleben vermindert, verunmöglicht oder zerstört. Im Unterschied zu weiten Teilen christlicher Tradition bedeutet Segnen im AT (und NT) häufiger ein konkretes Tun als ein Sprechen, häufiger benefacere denn benedicere. Die 1. Lesung wie auch das Evangelium stellen die Zuhörenden vor die Entscheidung, entweder den Weg des Segens zu wählen oder den Weg des Fluches.

Mit Israel lesen

Das Deuteronomium weist zwei Besonderheiten in seinem Segensverständnis auf:1 Erstens wird Segen im Dtn sehr konkret und umfassend verstanden, z. B.: «Gesegnet bist du in der Stadt, gesegnet bist du auf dem Land. Gesegnet ist die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Ackers und die Frucht deines Viehs, die Kälber, Lämmer und Zicklein. Gesegnet ist dein Korb und dein Backtrog. Gesegnet bist du, wenn du heimkehrst, gesegnet bist du, wenn du ausziehst» (Dtn 28,3–6). Ob man darin eine – modern gesprochen – heilsame Alltagsspiritualität sehen will oder einen im AT kaum mehr überbotenen «Heilsmaterialismus, der bis in die Backschüssel der einzelnen Haushaltungen reicht» (Gerhard von Rad), ist eine Frage der Gesamteinschätzung des Dtn. Jedenfalls werden im Dtn der Ertrag des Feldes, das Gedeihen des Viehs, der Sieg im Krieg und die Fruchtbarkeit menschlichen Lebens und Handelns in jeder Hinsicht als Wirkung göttlichen Segens verstanden.

Die zweite Besonderheit besteht darin, dass die Segensverheissungen nicht als unbedingte Verheissungen ergehen, sondern an Bedingungen geknüpft sind: Segen wird verheissen, insofern Israel «auf die Gebote JHWHs . . . hört» (7,27), insofern Israel «alle Gesetze und Rechtsvorschriften» achtet und hält (7,32). Für den Fall des Nichtbefolgens wird Fluch – Lebensminderung und Unheil – in Aussicht gestellt (7,28). Welche «Gesetze und Rechtsvorschriften» sind konkret gemeint? Es ist – neben dem Gebot der Alleinverehrung Gottes (Dtn 5,7–10; vgl. 6,4) – in erster Linie an die auf 11,26–32 folgenden Gebote in Dtn 12–26 zu denken. Diese Kapitel stellen ein neues Rechtsbuch dar (evtl. noch kurz vor dem Exil entstanden), das in praktischer Hinsicht wahrscheinlich als Ersatz für das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33), dem ältestem Rechtskodex des ATs, vorgesehen war.2 Ein solches Rechtsbuch ist in seiner enormen Bedeutung vergleichbar mit den Grundrechten oder der Verfassung eines modernen Staates. Gegenüber dem älteren Bundesbuch werden im Dtn nun besonders die Schutzbestimmungen für sozial und rechtlich Schwache erheblich ausgeweitet sowie Gesetze für Institutionen wie Königtum, Priestertum, Prophetie und Krieg erlassen (SKZ 175 [2007], Nr. 37, 623).

Der Segen Gottes wird im Dtn signifikanterweise zumeist als eine Wirkung des sozialethisch richtigen Handelns verstanden: Fremde, Waisen und Witwen sollen sich satt essen, «damit dich JHWH, dein Gott, segnet in allem Tun deiner Hand, das du verrichtest» (Dtn 14,29). In jedem siebten Jahr soll ein allgemeiner Schuldenerlass durchgeführt werden: «denn um dieser Sache willen wird dich JHWH ... segnen» (15,10). Beim Gesetz über die Freilassung von Schuldsklavinnen und -sklaven heisst es: «und es segne dich Gott, in allem was du tust» (15,18); bei der Einbeziehung der Schwächsten in die zentralen Wallfahrtsfeste: «denn JHWH ... wird dich segnen ... und du wirst nur noch fröhlich sein» (16,15); und auch die Anordnung, auf den Feldern einen Rest der Ernte für die Hungrigen stehen zu lassen, hat dasselbe Ziel: «damit dich JHWH, dein Gott, segnet in allem Tun deiner Hände» (24,19).
Angesprochen sind mit diesen Geboten freie Israeliten, die Grund und Boden besitzen: Sie tragen die Verantwortung für die Sicherung sozialer Randgruppen wie recht- und landlose Fremde, Witwen und Waisen, aber auch Sklavinnen und Sklaven, massiv Verschuldete, land- und arbeitslose Leviten usw. Das Teilen der Segensgüter soll nicht aus Mitleid oder Wohltätigkeit gegenüber den Benachteiligten und Besitzlosen erfolgen, sondern aus der Einsicht in die Sozialverpflichtung: Die Befreiung aus der Skalverei Ägyptens sowie die Gabe des Landes als Segensgut Gottes3 soll allen im Land zu gute kommen.

Insgesamt ist Segen im Dtn also eine Frucht sozialethischen Handelns: Das solidarische Teilen des selbst erfahrenen Segens erwirkt neuen Segen; das Verweigern solchen Teilens führt ins Unheil. Die sozialethischen Gebote sind als Torah/Weisung Gottes in Liebe zu Gott (Dtn 6,4) und zum Nächsten (Lev 19,18) zu befolgen.

Mit der Kirche lesen

Das Matthäusevangelium steht sehr stark in dieser jüdischen Tradition: Gleich zu Beginn, am Übergang von den Seligpreisungen (SKZ 176 [2008], Nr. 4, 47) zum paränetischen Teil der Bergpredigt, stellt Jesus klar: «Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben ... Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird gross sein im Himmelreich» (5,17). Selbst christliche Propheten, Exorzisten und Wundertäter kennt der matthäische Christus im Endgericht nicht, wenn sie «Übertreter des Gesetzes» sind (7,23). Nur wer den Willen des Vaters im Himmel erfüllt (7,21), d. h. wer auf die Worte Jesu «hört und danach handelt» (7,24), wird «in das Himmelreich kommen» (7,21). Doch was ist «der Wille des himmlischen Vaters» in der Auslegung Jesu konkret? Aufgrund der Schlussstellung von 7,21–27 sind die gesamten Worte der matthäischen Bergpredigt gemeint. Die Zurückweisung der Gesetzesübertreter (7,23) verweist zudem auf Mt 25,31–46: Wer Hungrige speist, Dürstenden zu trinken gibt, wer Fremde und Obdachlose aufnimmt, Nackte bekleidet, Kranke und Gefangene besucht, erfüllt den Willen Gottes. Solche Menschen bezeichnet Jesus als «Gesegnete meines Vaters» (25,34). Mit alledem betont das Matthäusevangelium: «Das Tun des Willens des Vaters wird im Gericht die entscheidende Grösse sein und nicht ein irgendwie geartetes christologisches Bekenntnis» (Ingo Broër). – Die 2. Lesung will wohl darauf aufmerksam machen, dass dies Paulus etwas anders sieht.

1 Auf eine dritte, äusserst problematische Seite im Zusammenhang des dtn/dtr Segensverständnisses wird im Folgenden nicht eingegangen: Die martialisch beschriebene Vertreibung äusserer Feinde, d. h. anderer Völker, durch JHWH (vgl. die von der Leseordnung ausgelassenen Verse in 11,23–25; oder 20,1 ff.; 28,7 usw.) sowie die grausame Ausmerzung «innerer Feinde», d. h. solcher Israeliten/ -innen, welche von JHWH weg hin zu andern Göttern verführen (11,28; 13,1–19). Diese Androhung brutalster Grausamkeiten haben wohl dadurch Eingang ins Dtn gefunden, als dieses in einigen Teilen assyrische Loyalitätseide, welche die im 7. Jh.v. Chr. unterworfenen Völker dem assyrischen Grosskönig leisten mussten, auf JHWH überträgt. Durch die Übertragung wird nicht nur die unermessliche Treue zu JHWH, sondern auch die unerbittliche Feindschaft zu andern Völkern und deren Göttern zementiert.
2 Vgl. Frank Crüsemann: Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes. Gütersloh 21997, 235–322.
3 Aufgrund dessen verlegt 7,30 wahrscheinlich den Ort des Segen-Fluch-Ritus von den Bergen Garizim und Ebal bei Sichem (so Dtn 27,12 f.; Jos 8,33) in die Gegend des Jordanübergangs. Damit wird einerseits Samaria vom Ritus ausgeschlossen (im Gefolge von Hag 2,10–14, wonach die Samarier am nachexilischen Wiederaufbau des Tempels nicht mitwirken dürfen) und andererseits deutlich gemacht: Die Entscheidung zwischen Segen und Fluch beginnt gleich mit dem Betreten des Landes (vgl. Horst Seebass: Garizim und Ebal als Symbole von Segen und Fluch. In: Bib. 63 [1982], 22–31, hier 27).