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Es lebe der Unterschied!   

Peter Zürn zur Lesung am 8. Sonntag im Jahreskreis SKZ 19-20/2008

Alttestamentliche Lesung: Jes 49,14–15
Evangelium: Mt 6,24–34

Kennen Sie die Rätsel, bei denen man in zwei scheinbar gleich aussehenden Bildern 10 versteckte Unterschiede finden muss? Das ist ein gutes Training für das Lesen und Auslegen von Bibeltexten.

Mit Israel lesen

Der Lesungstext ist ein Gespräch zwischen Israel (Zion) und Gott. Das erste Wort hat das Volk. Es klagt: «Der Herr hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen.» Der jüdischen Auslegung ist die zweifache Nennung des Gottesnamens an dieser Stelle aufgefallen (JHWH und Adonaj). Im Hebräischen ist der Akzent, der damit gesetzt wird, noch deutlicher: Der Ausruf besteht nur aus vier Worten, zwei davon sind der Name Gottes. Warum zweimal? Was ist der Unterschied? Ein Midrasch formuliert: «Es heisst hier nicht: ‹Zion sagte: Verlassen hat mich der Herr und vergessen›, sondern ‹Verlassen hat mich der Herr, und der Herr hat mich vergessen›. Was bedeutet ‹der Herr, der Herr›? – Es (Zion) sprach zu Ihm: Sogar die beiden Eigenschaften der Barmherzigkeit, die bei dir vermerkt sind – ‹Der Herr ist ein erbarmungsvoller und gnädiger Gott› (Ex 34,6) – haben mich verlassen und vergessen.»1 Die jüdische Auslegung findet die Begründung für den zweifachen Gottesnamen in einer anderen Bibelstelle, in der Gott mehrmals beim Namen genannt wird. In Ex 34,6 wird der Gottesname dreizehnfach entfaltet (vgl. die Auslegung zum Dreifaltigkeitssonntag in dieser Ausgabe). Durch den Bezug zu Ex 34 kommt die Barmherzigkeit Gottes ins Spiel, die ebenfalls durch zwei Ausdrücke beschrieben wird. So wird weitergefragt: Was ist der Unterschied zwischen «erbarmungsvoll» und «gnädig»? Ibn Esra stellt fest. «Es gibt auch einen Barmherzigen, der keine Kraft besitzt.»2 Das ist bei Gott nicht der Fall. Seinem barmherzigen Wesen entspricht seine Wirkmacht, sich gnädig zuzuwenden. Gottes Erbarmen wird immer auch manifest. Beide Aspekte der göttlichen Barmherzigkeit sind für das klagende Volk in Jes 49 nicht mehr erfahrbar. In der gegenwärtigen Situation – wohl die Erfahrung des Exils – ist nichts von gnädiger Zuwendung zu spüren, es ist auch keine Beziehung zum barmherzigen Wesen Gottes mehr möglich. Es bleibt nur noch der verzweifelte, verdichtete Klageruf der Verlassenen und Vergessenen. Der Klageruf des Volkes besteht ausser dem Gottesnamen noch aus zwei Verben, verlassen und vergessen. Die rabbinische Auslegung interessiert sich auch hier für die Unterschiede. Dafür versetzen sich die Rabbiner in Ehefrauen und Ehemänner. Rabbi Abarbanel schreibt: «Es ist wie bei einem Mann, der seine Frau verlässt und sich davonmacht.» Die Frau klagt: «Und ausser diesem Verlassenwerden bin ich in Seinem Herzen auch vergessen wie eine Tote.»3 Nicht nur verlassen, sondern auch noch vergessen zu werden, das entzieht der Beziehung jede Lebensgrundlage. Resch Laqisch erklärt: «Die Gemeinschaft Israels sprach vor dem Heiligen, gelobt sei Er: ‹Herr der Welt, wenn ein Mann eine Frau nach seiner ersten Frau heiratet (die er offensichtlich verlassen hat), so denkt er (doch zumindest) an das Tun der ersten. Du aber hast mich verlassen und vergessen›.» Das Vergessen zerstört selbst die Erinnerung an die früheren gemeinsamen Erfahrungen.

Die Klage des Volkes wird zur Anklage gegen Gott. Die traumatische Erfahrung des Exils wurde ja zu bewältigen versucht, indem man dahinter letztlich Gottes Wirken sah und das Exil als Strafgericht für Israels Sünden deutete. Doch diese Deutung kommt an Grenzen. Dagegen wird Klage und Widerspruch laut. Wie sehr Israel auch gesündigt haben mag – ist dies ein Grund für Gott, noch den letzten Gedanken an das Volk aus seinem Herzen zu verbannen? In der tiefsten Verzweiflung und Depression findet das Volk die Kraft, genau und differenziert auf sich und und Gott zu blicken, für sich selbst einzustehen und um die Beziehung zu Gott zu kämpfen. In Klage und Anklage stellt sich Zion Gott gegenüber und fordert ihn zur Beziehung heraus.

Gott nimmt die Herausforderung an und geht in Beziehung: «Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde, ich vergesse dich nicht.» Gott vergleicht seine Beziehung zum Volk nicht mit der eines Mannes zu seiner Frau. Ehen sind auch zu biblischen Zeiten schon gescheitert. Nein, Gott will das Volk durch ein anderes Bild seiner Treue versichern: der Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind. Das ist die grundlegende Beziehung des menschlichen Lebens. Unser Leben entwickelt sich im Schoss der Mutter. Hier werden wir getragen und genährt und auch als Geborene sind wir abhängig von der Zuwendung anderer, jetzt nicht mehr ausschliesslich der Mutter. An diese Grunderfahrung erinnert Gott sich und sein Volk. Sie soll nicht vergessen gehen, weder bei Gott noch bei den Menschen. Dreimal wendet sich Gott in diesem einen Vers gegen das Vergessen, dass Leben nur in Beziehung möglich ist. Es spricht für den biblischen Realismus, dass auch die Beziehung von Müttern zu ihren Kindern nicht gegen reale Erfahrungen idealisiert wird. Mütter haben ihre Kinder vergessen, von biblischen Zeiten an bis in unsere Gegenwart. Und trotzdem kommt das Bild dieser Beziehung der Vorstellung von Gottes Beziehung zu seinem Volk am nächsten.

Dadurch wird noch eine Verbindung zwischen dem Jes 49 und Ex 34,6 sichtbar. Gottes Beziehung zum Volk besteht in Barmherzigkeit. Das ist sein Wesen und zeigt sich in gnädiger Zuwendung. Das hebräische Wort für Barmherzigkeit rachamim geht zurück auf rächäm, das Wort für den weiblichen Schoss, den Mutterschoss oder die Gebärmutter. Gottes barmherzige Beziehung zu seinem Volk wird ausgedrückt durch ein Wort, das die grundlegende Beziehung jedes menschlichen Lebens mitbenennt. Dabei ist der Mutterschoss der Ort einer ganz besonderen Beziehung. Hier entwickeln sich aus engster Bezogenheit immer klarere Unterscheidungen. Hier differenziert sich ein eigenständiges Wesen heraus. Hier beginnt Freiheit in Bezogenheit.

Mit der Kirche lesen

Wir neigen dazu, unsere Anfänge zu vergessen. Wir vergessen, dass unser aller Leben im Mutterschoss beginnt. Es beginnt damit, dass wir von Anderen mit allem Lebensnotwendigen versorgt werden. Wir leben nur, weil wir vor der Geburt und lange über die Geburt hinaus mit Zuwendung beschenkt wurden, die wir uns nicht erst verdienen mussten. Geschenkte Zuwendung ist die Grundlage allen Lebens. Als Erwachsene müssen wir daran erinnert werden und Jesus tut das im heutigen Evangelium. Er braucht nicht das Bild vom Mutterschoss, er spricht von Vögeln und Lilien. Aber er meint das Gleiche. Das wirklich Lebensnotwendige wird geschenkt. Vor der Geburt und nach der Geburt, ein Leben lang. Leben bedeutet, weiter zu schenken, was uns selbst geschenkt wurde. Dadurch wird das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit erfahrbar. Sich an den eigenen Anfang zu erinnern und aus der Erinnerung daran zu leben, hilft sehr dabei, zwischen der Beziehung zum Gott Mammon und der Beziehung zu Gott JHWH zu unterscheiden.

1 Zitiert nach Roland Gradwohl: Bibelauslegung aus jüdischen Quellen. Band 2 Predigttexte des 6. Jahrgangs. Stuttgart 21995, 235.

2 Ebd. 111.

3 Ebd. 234.